Eine Fahrradtour von Brig nach Basel
Zwar wurde die Schweiz von den Weltkriegen und Diktaturen des 20. Jahrhunderts weitgehend verschont, aus der Perspektive des Biertrinkens ging es aber auch dort nicht ohne Durststrecken – im übertragenen Sinn: Seit den 1930er-Jahren lag das Land fest im Griff des Schweizer Bierkartells [1] und konnte sich erst mit Beginn der 70er-Jahre nach und nach davon befreien.
Mitte 2015 machte sich der Autor auf den Weg, dieses Land und besonders die Gegenden abseits der Kernlande mit dem Velo zu „erfahren”.
Die Reise beginnt mit einer Zugfahrt von Berlin nach Brig im Kanton Wallis. Für die Walliser, so lesen wir, ist der Rest der Schweiz nur eine Nationalhymne entfernt davon, als Ausland zu gelten [2].
Klimatisch – und wirklich nur klimatisch – ist das Wallis die trockenste Region Mitteleuropas: an allen vier Seiten von den (Berner, Walliser und Savoyer) Alpen umgeben und somit im vielfachen Regenschatten. Für den ungeübten Flachländer auf den ersten Blick nicht geeignet für eine Fahrradtour. Doch die Rhône, deren Tal den Kanton prägt, strebt dem Mittelmeer zu, und solange man die Aufstiege mithilfe der Bahn bewältigt und dann dem Fluss auf seinem Weg folgt, verspricht die erste Etappe der Tour de Suisse das Maß körperlichen Einsatzes erträglich zu halten.
Die Fahrt im Nachtzug von Berlin, der inzwischen als Nightjet von der Österreichischen Bundesbahn betrieben wird, verläuft unspektakulär, sodass der Autor morgens ausgeruht in Basel eintrifft. Das Getümmel im Bahnhof dort übertrifft das des Ausgangspunkts Berlin Hbf um einiges, doch der Anschlusszug ist schnell gefunden, und weiter geht die Fahrt nach Brig. Der „Blick”, die Schweizer Version der „Bild”-Zeitung, berichtet von Schnee auf dem Furkapass. Gut, dass die Tour viel tiefer startet. Um 10 Uhr ist die Stadt Brig, einst Ausgangspunkt des Handels über den Simplonpass nach Italien, erreicht, und der Tag beginnt mit der Akklimatisation.
Radfahren in der Schweiz
In der Schweiz gibt es ein dichtes Netz von touristischen Radwegen, gestaffelt nach lokalen, regionalen und nationalen Routen. Ich folge zunächst der Rhone-Route mit der Nummer 1 und suche dann hinter Lausanne auf lokalen Routen die Jura-Route mit der Nummer 7 zu erreichen. Schwierige Aufstiege werden mit der Bahn genommen. Die Wege sind gut ausgeschildert, ein Navi/Smartphone ist dennoch hilfreich. Die Strecken sind meistenteils asphaltiert und abseits von Autostraßen geführt.
Bei schönstem Sommerwetter geht es talwärts Richtung Visp. Brig und Visp sind nicht nur Nachbarn, sondern haben auch jeweils einen FIFA-Präsidenten hervorgebracht [3]. Doch nicht nur darin hält das Oberwallis einen Rekord. Bei Visp befinden sich die höchstgelegenen Weinberge Europas, die sofort angesteuert und auch gefunden werden. Hitze und Erschöpfung beschleunigen jedoch die Entscheidung, alsbald den Rückweg nach Brig anzutreten. Es galt, beizeiten die Herberge zu erreichen: den Schmeli-Hof, gelegen auf einem „Hügel” oberhalb der Stadt.
Die Herbergsmutter bot Speise und Trank für kleines Geld, sodass eine erneute Talfahrt (und damit notwendiger erneuter Aufstieg) dem Autor erspart blieb. Der hofeigene Käse wäre auch kaum zu übertreffen gewesen.
Ein Besuch in der sympathisch wirkenden Suonen Bräu in Ausserberg wurde schon im Vorfeld avisiert, kam aber zu meinem allergrößten Bedauern nicht zustande, so blieb noch etwas Zeit, die Stadt Brig zu erkunden, bevor es, wiederum die Rhône entlang, die im Oberwallis auch Rotten genannt wird, in Richtung Siders (Sierre) geht. Das nächste Tagesziel ist zugleich der Höhepunkt der Reise, sowohl in Höhenmetern als auch was die Bierqualität und ‑vielfalt betrifft. Doch eins nach dem anderen: Wir überqueren die Sprachgrenze am Pfynwald.
Ab jetzt (wie auch für den größten Teil der Reise) befinden wir uns in der Romandie und hören und sprechen nach unserem begrenzten Vermögen Französisch. Der Autor ist damit so weit ausgestattet, dass er eine Conversation mit etwas Mühe und Glück für zwei Minuten aufrechterhalten kann. Das Fahrrad wird aufgrund des zu erwartenden Anstiegs in Siders gegenüber der Polizeistation angeschlossen, und es bleibt noch etwas Zeit für eine Einkehr im Restaurant Le Rothorn, einem Familienbetrieb an der Hauptstraße, der an diesem Tag (Fronleichnam) Feiertagsstimmung verbreitet, bevor der Postbus in Richtung Zinal bestiegen wird.
Postbusse haben durchgehend WLAN, müssen aber beim Aufstieg ins Seitental entgegenkommende Fahrzeuge durch Hupen warnen. Die Kombination der Gefahrenlage durch steile Abhänge, schmale Straßen und enge Kurven mit durchgehendem Zugang zum Internet erlaubt, aufkommende Ängste während der Fahrt (und der Autor ist derer durchaus nicht frei) sofort zu twittern oder auf Facebook zu teilen. Die Entscheidung, wegen der zu erwartenden schönen Aussicht einen Platz auf der Talseite des Busses einzunehmen, wird nach der ersten Kurvendurchfahrt schnell revidiert und die vermeintlich sicherere Seite abseits des Tals eingenommen.
Die verbleibende Fahrzeit entlang des Abgrunds wird damit verbracht, sich bereit zu machen, seinem Schöpfer entgegenzutreten. Zu dieser Begegnung kommt es jedoch vorerst nicht. Stattdessen werden, an der Endhaltestelle Zinal angekommen, die Schritte in Richtung des Hotels Le Besso gelenkt, und das vorab gebuchte Zimmer wird als einziger Gast im Hause bezogen.
Im Le Besso [4] walten Julien Brändli und seine Partenaire. Ersterer braut erstklassige Biere [5], die nicht anders (und der Autor ist für gewöhnlich sparsam mit diesem Prädikat) als kreativ einzustufen sind. Die Biere erreichen nur in geringen Quantitäten die Landschaften außerhalb des Tals und meines Wissens Deutschland überhaupt nicht.
Brauereien in der Schweiz
In der Schweiz gibt es vor allem im deutschsprachigen Teil eine quicklebendige Brauszene. Eine umfassende, wenn auch nicht immer leicht zu bedienende Zusammenstellung findet sich auf www.bov.ch. Die Handhabung hat sich seit dem letzten Update der Website sehr verbessert, sodass jetzt Brauereien auch leichter über Kantonsgrenzen hinweg gefunden werden können.
Als Aperitif ein fruchtiges (India) Pale Ale. Danach diverse hauseigene Biere aus der Flasche, die jedoch das erste nicht mehr erreichen. Die erstklassige Küche – die Wahl fällt auf Kalbsleber – rundet das Erlebnis ab. Der Versuch, alle angebotenen Biere des Hauses zu kosten, scheitert auch nach Pause und Spaziergang durch den Ort am Erschöpfungsgrad des Probanden.
Der nächste Morgen bietet ein Frühstück, für das die Adjektive seiner Beschreibung noch erfunden werden müssen. Die Wirtin erlaubt, vom Buffet etwas für den Weg einzupacken, und so wird der Beschluss gefasst, den Weg zurück nach Siders zu Fuß anzutreten, um die noch vom Vortag in allzu lebhafter Erinnerung gebliebene Busfahrt auf der Bergstraße zu vermeiden. Julien gibt noch eine Flasche seines Baseler Läckerli [6] hinzu, und se partir.
Das Tal ist jedoch kurz vor seiner Öffnung ins Walliser Haupttal von einer Schlucht eingeengt, die weder Platz für eine Talstraße noch für einen Fußweg ließ, sodass für das letzte Stück doch leider auf den Postbus zurückgegriffen werden muss.
In Siders zurück gehts weiter auf dem Drahtesel zum nächsten Tagesziel: der Kantonshauptstadt Sitten (Sion).
Quartier wird in der Jugendherberge genommen, die auf der der Stadt abgewandten Seite der Bahn liegt. Am Abend ein Ausflug auf den zentralen Platz mit dem Les Divins Brasseurs, einer Braugaststättenkette (wenn auch nur mit einer Handvoll Glieder) mit Publikum, dessen Durchschnittsalter durch die Anwesenheit des Radreisenden beträchtlich erhöht wird. Der Abend wird mit einem Ausflug auf die Burg, die das Tal auf einem Hügel in der Mitte teilt, abgeschlossen.
Von Sitten aus am nächsten Morgen weiter in Richtung Genfer See, der Abschuss schwächt sich, jedoch steigt mit der Übung auf dem Rad auch die Geschwindigkeit, und vor dem Auslaufen des Dampfers vom Port-de-Valais bleibt noch etwas Zeit für einen Besuch im Strandcafé und einen Durstlöscher aus industrieller Produktion.
Der Dampfer [7] überquert den See, und für die Reise zum nächsten Etappenziel Lausanne wird ein Umsteigen in dem Städtchen Vevey nötig. Die Umsteigezeit reicht für weitere Erkundungen jedoch nicht aus, denn bald ist der Dampfer „La Suisse” bereit, die Passagiere aufzunehmen und entlang des Nordufers nach der zweitgrößten Stadt der Romandie zu bringen.
Im Nachhinein ist Lausanne ein Lowlight auf der Tour, und wer Gedanken auf eine ähnliche Reise hegt, dem sei empfohlen, die großen Städte zu meiden. Empfehlenswert dennoch die Π‑Bar nahe dem Stadtzentrum.
Bahnfahren in der Schweiz
Die Schweiz gilt weltweit als Vorbild, was das Bahnangebot angeht. Es gibt keine prestigeträchtigen Hochgeschwindigkeitsstrecken (Ausnahme: der neue Alpenbasistunnel nach Italien), dafür ein effizientes Netz und einen kurzgetakteten Fahrplan. Auf dieser Reise wurden zwei Nebenstrecken für Aufstiege, eine Baseler S‑Bahn-Linie, Schiffsverbindungen und einmal der Postbus benutzt. Fahrradmitnahme ist überall problemlos, im Postbus nach Anmeldung möglich.
Am nächste Morgen geht’s vom Genfer See nordwärts in Richtung der Freiberge. Dorthin geht es jedoch nicht ohne den ersten nennenswerten Aufstieg, seit der Autor die Alpen hinter sich gelassen hat. Doch auch hier wird, statt Verausgabung zu riskieren, sich der helfenden Kraft der Bahn anvertraut und auf der Station Les Baumes ein Billet gelöst, das das Rad und seinen Lenker nach Ste. Croix bringen soll. Die Brauerei Trois Dames ist über den Ort hinaus bekannt und zwar auf den Karten von Google verzeichnet und findbar, vermittelt aber weder durch offene Türen noch durch ein Firmenschild den Eindruck, dass sie gefunden werden will. So streben wir wegen der zunehmenden Unfreundlichkeit des Wetters schnell dem nächsten Tagesziel zu, das in Fleurier liegt.
Die Wirtsleute der Ferienwohnung sind verreist und haben kurzerhand die Tür für den Gast offen gelassen und auch die Haustiere in seine Obhut gegeben. Ich entlasse die heimische Katze in die Freiheit des Gartens, die sie nach Eindruck des Autors durch lautstarken Aufenthalt an der Tür erbittet. Der Ort Fleurier hat nur ein Gasthaus, das attraktive, in diesem Falle südländische Speisen bietet. Die Stunde, zu der es seine Pforten öffnet, lässt noch auf sich warten. So erkundet der Autor das Städtchen. Fleurier ist verträumt, mit Bahnstation zwar, hat aber auch den Pub L’Irlandais, der mit einem für die Größe des Ortes erstaunlichen internationalen, zumeist Flaschenbier-Angebot aufwartet und die Zeit bis zum Abendessen aufs Angenehmste verkürzt.
Am nächsten Tag sind etliche Kilometer zu bewältigen. Der Radweg führt meist abseits der Straßen durch beschauliche Landschaften. Die Zahl der, wenn auch gemäßigten, Anstiege nimmt zu, und für große Pausen ist kaum Zeit. So bin ich dankbar, dass sich direkt am Radweg, ohne den Umweg durch La-Chaud-de-Font machen zu müssen, die Möglichkeit zur schlichten Einkehr, einem unkomplizierten Mahl mit einem großen Glas Feldschlößchen, im Restaurant des Tunnels (chez Jaques) bietet. Obwohl die Uhrmacherstadt sehenswert ist und durch ihre Abgelegenheit sicher nicht überlaufen, treibe ich mich zum Aufbruch an. Denn noch liegt ein guter Teil der Tagesstrecke vor mir.
Das nächste Ziel wartet in La Bémont in den Freibergen. Unweit davon die wohl bekannteste Kleinbrauerei der Romandie: La Brasserie Franche Montagne (BFM) in Saignelégier. Diese empfängt den Gast mit einem Angebot an Merchandise, im Sommer auch mit einer Buvette und Musik. Beim Autor machen sich jedoch nach den Anstrengungen der Etappe Schmerzen und Müdigkeit bemerkbar, und so sucht er zunächst die Sicherheit der Herberge, um am nächsten Morgen die Brauerei zu besuchen und den Abend mit Flaschenbier aus selbiger und Hoffnung auf eine daraus folgende Bettschwere zu beschließen.
Die allerletzte Etappe der Reise steht an. Die körperliche Anstrengung hat Spuren hinterlassen. Auch regnet es zum ersten Mal auf der Reise. So fällt der Entschluss, die Radfahrt durch das Tal der Lützel zu führen, das in Laufen auf die S‑Bahn-Linie nach Basel trifft, und somit die Radfahrt abzukürzen.
Die verbleibenden Kräfte werden für den letzten Abend aufgespart. Braufreund vade aus dem Hobbybrauerforum hatte mir ein Treffen angeboten, und ich verdanke ihm eine fundierte Einführung in die neuere Bier- und Kulturgeschichte der Schweiz unter besonderer Berücksichtigung von Klein- und Großbasel, und das nicht nur theoretischer Natur.
Wir starten in der All Bar One bei einem Küchenbier, das in einer Hobbybrauerküche entstand und bis heute in der Bar ausgeschenkt wird. Auf der nächsten Station, dem Voltabräu in einem ehemaligen Umspannwerk an der Elsässerstraße, empfängt uns eine übersichtliche Bierkarte mit Craft-Beer-Classikern von guter Qualität. Das geräumige Lokal ist gut gefüllt mit internationalem Feierabendpublikum, das sich aus dem nahe gelegen Novartis-Campus speist.
Von da aus geht’s auf die andere Rheinseite. In Kleinbasel befindet sich die Fischerstube. Sie gilt als die älteste Braugaststätte neuer Zeitrechung (i. e. nach dem Schweizer Bierkartell). Schön gelegen mit Freisitz auf dem Hof. Aber schon wird’s Zeit, an die Rückreise zu denken. Im Nachtzug nach Berlin erwartet mich neben dem Bett für die Nacht mein Schlummertrunk, ein Weißbier einer großen deutschen Brauerei, das man – wenn man dem Werbeslogan Glauben schenkt – aus der Flasche trinken kann. Ich glaub’s nicht. Da greife ich lieber zum Basler Läckerli aus Zinal, das die Schüttelei und Hitze klaglos überstanden hat und diese Reise aufs Schönste abschließt.
- https://de.m.wikipedia.org/wiki/Bierkartell_(Schweiz)
- http://www.bierversuche.ch/blog/tag/wallis/
- Blatter und Infantino https://en.wikipedia.org/wiki/List_of_presidents_of_FIFA
- Hôtel le Besso http://www.le-besso.ch/
- Brasserie des 5 Quatre Mille https://de-de.facebook.com/bieredezinal/
- Ein Imperial Milk Stout mit Basler Läckerli. Der Maische wird das Gebäck zugesetzt.
- Die Vevey ist freilich kein Dampfer mehr, sondern verfügt über einen dieselelektrischen Antrieb.