Kräuterbier vom Niederrhein
Im Mittelalter trank man am Niederrhein ein Kräuterbier, das man nach seinem Würzzusatz Grut, Gruit, Gruyt, Graut oder Grüssing nannte. Es wurde unter Zugabe von Blättern und Früchten des Gagelstrauchs gebraut und ist deshalb heute auch als Gagelbier bekannt. Vom 14. Jahrhundert an wurde das Grutbier allmählich vom Hopfenbier verdrängt.
Das Grutbier wurde zu einem beachtlichen Teil nicht nur von professionellen Brauern, sondern auch von den Bürgern in den Städten und den Bauern auf dem Land für den Eigenbedarf gebraut. Im Mittelalter war noch keine Methode bekannt, die Bierwürze während des Herstellungsprozesses zu kühlen. Das Grutbier wurde daher wie das heutige Altbier obergärig bei Gärtemperaturen um die 18° C hergestellt und auch im Sommer gebraut. In einem Neusser Ratsbeschluss des Jahres 1357 wird der Juni sogar als „Bramant – Braumonat“ bezeichnet.
Erstmals erwähnt wird das Grutbier 974 in einem Privileg Kaiser Ottos II. (955−983) für die Kirche von Lüttich. Vermutlich ist das Grutbier aber noch älter, denn bereits im frühmittelalterlichen England war ein ähnliches Kräuterbier bekannt. Auch im mittelalterlichen Bayern kannte man ein Getränk namens gräwzzing, greuzenich, gräussing oder greissing.
Die Herstellung der Grut war ein landesherrliches Recht, das von dem jeweiligen Landesherrn gegen Zahlung an Städte oder Privatleute weitergegeben bzw. verpachtet wurde. Produziert wurde der Würzzusatz in speziellen Gruthäusern. In Neuss war die Äbtissin des Quirinusstiftes Inhaberin der Grutgerechtsame. Schon 1283 sind hier ein Gruthaus und ein Grüter namens Konrad schriftlich belegt. In Wesel war das Grutrecht seit 1272 in den Händen der Stadt. Aus diesem Grund sind in den städtischen Rechnungsbüchern die für die Grutherstellung gekauften Zutaten aufgelistet.
Der Hauptbestandteil der Grut war demnach das gagelkruyt, das in den Quellen auch unter der lateinischen Bezeichnung custum erscheint. Der Gagel, botanisch Myrica gale, wurde zumeist in den Niederlanden, vor allem in Deventer, Zwolle, Dordrecht und Arnheim gekauft, aber auch von Weseler Bürgern direkt geliefert. Er war der teuerste Bestandteil der Grut. Daneben wurden Harz, siler montanus und die Beeren des Lorbeerbaumes in die Grut gegeben. Diese Zutaten wurden meistens in Köln gekauft. Hinter dem Begriff siler montanus verbirgt sich eine alpine Pflanze, die unter den Bezeichnungen Rosskümmel, Bergkümmel oder Berg-Laserkraut (Laserpitium siler) bekannt ist. Offensichtlich ist sie identisch mit der Pflanze, die in niederländischen Quellen als Scherpentange, Scharpe Tonge oder serpents-tonghe auftaucht.
In Köln wurde die Grut auf ähnliche Weise wie in Wesel hergestellt, allerdings unter Verwendung zusätzlicher Gewürze. Dies lässt sich aus einer Kostenaufstellung aus dem Jahr 1391 und einer 1393 niedergeschriebenen Bestandsliste aus dem Kölner Gruthaus ersehen. Neben Gagel gab man Harz, Lorbeer, Kümmel, Feldkümmel, Anis, Bergkümmel und Ingwer in die Grut. Letzterer wurde in Köln getrocknet in Säcken und auch „grün“ (als frische Wurzel) in Keramikgefäßen verkauft. Weiterhin gab man gegirde spryen zu, die das Kölner Gruthaus von Müllern und Brauern bezog.
Hinter den sprijen oder auch spelschen sprijen verbirgt sich die vergorene Spreu des Dinkels (Triticum spelta). Dinkel gehört zu den Spelzgetreiden. Seine Ährenspindeln sind brüchig und seine Körner fest von Spelzen umgeben. Die Dinkelkörner können daher nicht wie die anderer Getreidearten durch Dreschen entspelzt werden. Vielmehr ist hierfür ein sogenannter Gerbgang notwendig, bei dem die Körner zwischen zwei Mühlsteinen in einem breiten Mahlspalt zerrieben werden. Als Abfallprodukt entstehen beim Gerbgang sprijen, an denen Mehlstaub sowie, auf der Außenseite der Spelzen, ähnlich wie bei Weintrauben Hefepilzkulturen haften. Werden die Spelzen nun angefeuchtet, beginnen sie zu gären.
Von der Spelzspreu leitet sich wahrscheinlich der Begriff Grut her, der mit den Wörtern „Gries“ und „Grütze“ verwandt ist: Nach Auskunft des Etymologicum Linguae Teutonicae, einem 1599 von Cornelius Kiliaan in Amsterdam herausgegebenen Lexikon, war gruys-bier oder gruysen bier ein Getränk, das ex furfuribus cocta, also aus Kleie, Gries oder Spreu gekocht wurde.
In den lateinischen Quellen wird das Wort Grut mit fermentum übersetzt, der Grüter heißt fermentarius. Offensichtlich war die Grut ein fermentiertes Kräutergemisch, das auch Hefe enthielt. Im Gruthaus wurden die einzelnen Kräuter zusammen mit den vergorenen Spelzen zu einem Brei vermischt, der dann erhitzt und getrocknet wurde. Zur Zubereitung der Grut gehörte ein Vorgang, der mit der kroůt ein heuft zo setzen (der Grut ein Haupt zu setzen) beschrieben wird. Wahrscheinlich handelt es sich hierbei um die obergärige Fermentation des Kräuterbreies, die durch die Zugabe der vergorenen Spelzspreu in Gang gesetzt wurde.
Wie der Fermentationsprozess im Detail ablief, lassen die verwendeten Braugeräte nur erahnen. Im Kölner Gruthaus gehörten 1391 ember (Eimer), bessem (Besen) sowie ein schyf (Scheffel) zur Ausstattung. Ebenso verwendete man hier ein Sümmer (Getreidemaß), zeymen (Siebe), eine schouppe (Schöpfschaufel), einen Grutfassdeckel, einen Kessel, Seile, Bindschnur, diverse manden (henkellose Körbe) und einen meijscheijt (Maischetrenner?). 1420 bestellte man außerdem einen Kupferkessel und ließ einen Ofen setzten.
Nach dem Trocknen wurde das Ferment in der Grutmühle, einer Pferdemühle, gemahlen. Das so entstandene Pulver, eine Gewürzmischung mit Trockenhefe, wurde an die Brauer verkauft, die es dann in die Maische gaben und mit ihr die Gärung der Bierwürze in Gang setzten. Offensichtlich war die Grut nicht lange haltbar, da sie nur in relativ kleinen Mengen abgegeben wurde. Die in ihr enthaltenen Kräuter dürften dem Bier einen scharfen, leicht süßlichen Geschmack mit bitterer Note verliehen haben.
In Köln wurde die Grut nach unterschiedlichen Rezepten zubereitet: 1420 verwendete man lediglich Dinkelspreu, Gagel, Bergkümmel und Harz sowie eine kleine Menge Hopfen. In Duisburg gab man auch Kirschen, vermutlich Sauerkirschen, in die Grut.
Letztendlich war die Herstellung der Grut aber recht einheitlich, denn auch im angrenzenden Westfalen und in Niedersachsen wurden die gleichen Zutaten wie am Niederrhein verwendet. So enthielt die Osnabrücker Grut Gagel, Dinkel, Scharpetangen, Lorbeer und Harz. In Westfalen wurde der Gagel teilweise auch als Porst bezeichnet, was unter den Historikern für einige Verwirrung gesorgt hat, da man ihn zeitweilig mit dem Sumpfporst (Ledum palustre L.) gleichsetzte.
Wann das Grutbier am Niederrhein endgültig verschwand, lässt sich nicht mit Sicherzeit sagen. Obwohl sich im 16. Jahrhundert das Hopfenbier flächendeckend durchgesetzt hatte, scheint das Grutbier noch bis zum Ende des Dreißigjährigen Krieges gebraut worden zu sein, denn die „graut“ wird noch 1649 im Amtsbrief der Neusser Brauer genannt! Als Nischenprodukt war das Grutbier wahrscheinlich auch an anderen Orten des Niederrheins, vor allem auf dem Land, sehr langlebig, wie die Verhältnisse im heutigen Niedersachsen vermuten lassen: In Osnabrück fasste der Stadtrat erst 1702 den Beschluss, fortan den Brauern die Verwendung von Gagel bei der Bierherstellung zu untersagen, in der Stadt Oldenburg wurde Gagel erst 1724 verboten!
Abbildungen:
- Abb. 1: Foto: M. Langenberg.
- Abb. 2, 3 und 4: Foto: C. Pause
Weiterführende Literatur