Da er die stark verschuldete Stadt Reichenhall finanziell unterstützen wollte, verlieh Herzog Georg der Reiche 1492 der Stadt die Abgaben aus dem Ungeld, einer Art von Getränkeverbrauchssteuer auf alkoholische Getränke. Um die künftigen Einnahmen effizient zu gestalten und um die Qualität der verabreichten alkoholischen Getränke zu garantieren, erließ der Reichenhaller Stadtrat in Absprache mit dem herzoglichen Pfleger Wilhelm Trauner am 7. Februar 1493 eine Getränkeverordnung für Wein, Met und Bier.
In insgesamt 43 Punkten wurden Im- und Exportbedingungen, steuerliche Gefälle, Kontrollinstanzen, Herstellungsverfahren und Strafmaße festgelegt. Der größte Teil der Getränkeverordnung war dem Bier, seiner Zusammensetzung und dessen Verkauf gewidmet. Punkt 24 sah vor, zum Bierbrauen – so es keine anderen Absprachen mit dem Stadtrat gab – nur Malz, Wasser und Hopfen zu verwenden: „Ain yeder Prew soll bey dem aid, denn er darumben geschworn hat, nit annders prauchen zu pier dann guet beschauts unnd gerechtfertigs Malltz, Wasser unnd Hopffn.“
Dass die Zugabe von Hefe beim Brauprozess sehr wohl bekannt war und als selbstverständlich für die Kenntnis um die Bierherstellung vorausgesetzt wurde, belegt Punkt 34, worin vermerkt wird, dass Brauer und Wirte die Bierhefe – hier „Germ“ genannt – verkaufen durften. Zudem unterschied man sprachlich explizit zwischen der Weinhefe, die als Hefe bezeichnet wurde, und der Bierhefe, also dem Germ. Die Getränkeverordnung sah ferner nicht nur die Herstellung von Bieren aus Gersten‑, sondern auch aus Weizengetreide vor. Die genaue Beschreibung des Brauprozesses verdeutlicht darüber hinaus den hohen handwerklichen Standard bei der Bierproduktion im Reichenhall des ausgehenden Mittelalters.
Die Reichenhaller Saline war damals bayernweit der größte und wichtigste Wirtschaftsbetrieb, wo rund 700 Menschen Arbeit fanden. Deren Versorgung mit guten und Kraft spendenden Getränken war von übergeordneter Bedeutung, hingen davon doch die Leistungsfähigkeit des Unternehmens und die Salzversorgung Bayerns ab. Vor diesem Hintergrund entstand die 14-seitige Getränkeverordnung, an deren Ausarbeitung man vom 24. Dezember 1492 bis zum 7. Februar des darauffolgenden Jahres beschäftigt war, also mehr als sechs Wochen lang. Sie dürfte – und dafür spricht auch die Länge der Bearbeitungszeit – für damalige Verhältnisse eine der besten und genauesten Getränkeverordnungen überhaupt gewesen sein, insbesondere im Hinblick auf die Qualitätskontrolle bei der Bierherstellung.
Die Benennung dieser Getränkeverordnung als „Reichenhaller Reinheitsgebot“ geht auf den Historiker und Bad Reichenhaller Stadtarchivar PD Dr. Johannes Lang zurück. Er konnte die Urkunde in den Beständen des Bayerischen Hauptstaatsarchivs ausfindig machen, erkannte deren Bedeutung für die bayerische Braugeschichte und beschrieb sie erstmals 2016 in einer Broschüre für die Bad Reichenhaller Brauerei „Bürgerbräu“ mit dem Titel „Das Bier, das Salz und die Stadt. Geschichte der Bier- und Braukultur in Bad Reichenhall“. Zusätzlich wird Johannes Lang in einer der nächsten Ausgaben der renommierten „Zeitschrift für Bayerische Landesgeschichte“ eine Transkription, Kommentierung und detaillierte Kontextualisierung der Urkunde vornehmen.
Dies ist insofern gerechtfertigt, als die Bedeutung dieses Fundes weit über den Reichenhaller Wirkungskreis hinausreicht. Denn nur neun Tage nach Inkrafttreten des Reichenhaller Reinheitsgebots erließ Herzog Georg der Reiche am 16. Februar 1493 für sein Teilherzogtum Bayern-Landshut, wozu auch Reichenhall gehörte, eine Biersatzordnung, in der ebenfalls Malz, Hopfen und Wasser als die alleinigen Bestandteile des Bieres verordnet wurden. Die zeitliche Nähe zum außerordentlich exakt ausgearbeiteten Reichenhaller Reinheitsgebot legt es nahe, dass man sich daran vorbildhaft orientierte.
Mit der Bayerischen Landesordnung vom 23. April 1516 sollte eine Harmonisierung der Verordnungen, Gesetze und Gebote der wiedervereinigten bayerischen Teilherzogtümer erfolgen. Dabei handelte es sich um eine möglichst alle Rechtgebiete umfassende Kompilation, bei der es nicht um detaillierte Vollständigkeit, sondern um die Klarstellung besonders wichtiger und aktueller Fragen für den frühneuzeitlichen Territorialstaat ging: Die knappen Formulierungen darin, das Bier und dessen Herstellung betreffend – heute bekannt als „Bayerisches Reinheitsgebot“ –, bilden lediglich eine verkürzte Darstellung der in Bayern damals allgemein verbindlichen Qualitätsstandards bei der Biererzeugung.
Genau über diese Qualitätsstandards gibt uns das Reichenhaller Reinheitsgebot von 1493 erschöpfend Auskunft. Es spiegelt gewissermaßen ein Abbild dessen, was hinsichtlich der Bierherstellung in Bayern damals als „state oft the art“ galt. Denn darin ist nicht nur die Rede von Wasser, Malz und Hopfen, sondern auch die Verwendung der Hefe wird angesprochen. Zudem wird erwähnt, dass sich das Malz keineswegs auf Gerstenmalz allein beschränken müsse und auch die Herstellung von Weizenbieren erlaubt sei. Detailliert wird der Herstellungsprozess des Bieres beschrieben, beginnend bei der Sichtkontrolle der Rohstoffe über den eigentlichen Brauvorgang bis hin zur Fassabfüllung. Das Reichenhaller Reinheitsgebot von 1493 spiegelt in herausragender Weise die Bedeutung des bayerischen Bieres am Ausgang des Mittelalters und das Bemühen um die Schaffung eines hochwertigen Volksgetränkes.
Dr. Johannes Lang ist Stadtheimatpfleger von Bad Reichenhall.