Erwartet hatte ich eigentlich etwas wie einen Lamadeckenverkauf auf der Kaffeefahrt. Da wollte uns doch wirklich jemand von einer bayerischen Glasfabrik weismachen, dass ein und dasselbe Bier aus verschiedenen Gläsern unterschiedlich schmeckt. Daran muss man glauben, so dachte ich, wie an die Wirkung homöopathischer Glaskügelchen, an denen nach zigtausendfacher Verdünnung nur noch die Erinnerung an den Wirkstoff haftet. Aber ich bin ein neugieriger Mensch und wollte das gern selbst erleben.
Aus Anlass des Berliner Bar Convents waren Anfang Oktober Markus Raupach und einige Repräsentanten der Kristallglasfabrik Spiegelau in der Stadt und nutzten die Gelegenheit, ihre Craft-Bier-Gläser in einigen lokalen Bars und Brauereien vorzustellen. Ich hatte die Chance, bei Hops & Barley dabei zu sein. Die etwa 20 Teilnehmer (inklusive Gastgeber Philipp Brokamp) fanden vor sich auf dem Tisch die drei Spiegelau-Verkostungsgläser und einen Platz für ein sogenanntes Jokerglas, der zum Vergleich mit einem Standard-Bierglas der jeweiligen lokalen Bar bestückt wurde.
Spiegelau-Geschäftsführer Richard Voit erklärte dann, wie es zur Bierglasentwicklung bei der doch eher für ihre Weingläser bekannten Kristallglasfabarik Spiegelau kam. Nach einem ersten, recht erfolglosen Versuch, die bekannten und bewährten Bierglasformen durch hochwertige Materialien und Verarbeitung zu verbessern, taten sich die Entwickler mit einigen Größen amerikanischer Craft-Brauereien zusammen: Sam Calagione von Dogfish Head und Ken Grossmann von Sierra Nevada für das IPA-Glas, John Mallet und Laura Bell von Bell’s Brewery für das Weizenglas sowie Vertreter von Left Hand und Rogue für das Stout-Glas.
Die Designer der Glasfabrik entwarfen diverse Glasformen, die in Verkostungen gegeneinander antreten mussten. Die besten Entwürfe wurden weiterentwickelt, bis schließlich der jetzt vorliegende Glas-Satz entstand. In den USA sind die Gläser bei einigen Brauereien und Bars im Einsatz, und auch in Deutschland findet man sie zunehmend in Craft-Bier-Bars (wie Straßenbräu in Berlin) und auf Festivals.
Die Verkostung startete mit dem Weizenglas. Die Barmannschaft schenkte Dirks Siegerweizen des Berliner Hobbybrauerwettbewerbs, das inzwischen in großem Stil (10 hl) in Philipps Marzahner Brauerei nachgebraut wurde, in das Spiegelau- und das Jokerglas ein. Das Jokerglas war ein gepresster 0,3‑l-Willibecher (Bild 1 im Vordergrund), wie er in der Bar in täglichem Gebrauch ist. Wir hatten also in beiden Gläsern das gleiche Bier vom gleichen Hahn bei gleicher Temperatur.
Dass der Geruch, ein herrliches Bananenaroma, aus dem Spiegelau-Glas stärker wahrnehmbar ist, war zu erwarten. Das Volumen über dem Bier ist in dem bauchigen Glas einfach größer, und das nach oben verschlankte Glas hält den an der großen Oberfläche entstehenden Duft besser im Glas. Am Willibecher war fast kein Geruch erkennbar. Frappierend war dann aber der Antrunk: Im Willibecher entstehen relativ große CO2-Bläschen, die beim Auftreffen auf der Zunge einen scharfen Eindruck hinterlassen und das eigentliche Bieraroma überdecken. Aus dem Spiegelau-Glas dagegen fließt das Bier viel weicher in den Mund und lässt den Aromen des Bieres mehr Spielraum. Das Mundgefühl ist sämiger, fast dickflüssig, und passt perfekt zu dem frischen, süßlichen, bananigen Bier.
Das mag magisch erscheinen, hat aber doch recht einfache physikalische Hintergründe. Zunächst sorgen das hauchdünne Glas und der relativ große Durchmesser der Öffnung dafür, dass man das Glas etwas anders am Mund ansetzt und das Bier somit anders auf der Zunge auftrifft als beim dickwandigen Becher mit der kleinen Öffnung. Außerdem ist das Spiegelau-Glas viel glatter, nicht nur durch die bessere Verarbeitung, die man beim Entlangstreifen des Fingers am Glas an den fehlenden Unebenheiten spürt, die beim Willibecher sehr deutlich merbar sind. Auch die mikroskopische Oberflächenstruktur des Spiegelauer Kristallglases ist wesentlich glatter. Dadurch bietet sie dem gelösten Kohlendioxid der Bieres nicht so viele Kondensationskeime, an denen es in großen Blasen ausgasen könnte.
Auch beim IPA-Glas, das wieder etwas schlanker ist, fällt der Vergleich mit dem Willi-Pressglas eindeutig aus. Neben dem weicheren Antrunk hat man auch immer das Gefühl, das frischere Bier im Glas zu haben. Das liegt einerseits daran, dass sich das Bier in dem hauchdünnen und leichten Spiegelau-Glas nicht so schnell erwärmt. Das schwere Pressglas des Willibechers hat eine wesentlich höhere Wärmekapazität und gibt die Wärmeenergie, die es bei Raumtemperatur gespeichert hat, schnell an das Bier ab, sodass es sich schon kurz nach dem Einschenken rasch erwärmt. Beim Spiegelau-Glas sorgt die Form des Fußes mit der Einschnürung und den Rillen in der Seitenwand auch dafür, dass das Bier beim Rückfließen in das Glas leicht verwirbelt wird und sich so immer wieder eine Schaumschicht auf dem Bier bildet, wenn die Flüssigkeit im Willibecher schon mehr nach Apfelsaft aussieht.
Die Unterschiede zwischen IPA- und Stout-Glas sind nicht so groß; lediglich Durchmesser und Höhe unterscheiden sich geringfügig, und die Rillen im Fuß fehlen beim Stout-Glas. Philipps Belgisches Dubbel macht darin eine besonders gute Figur, wenn sich in dem klaren, rötlich-kastanienbraunen Bier die Lichter spiegeln. Im Willibecher ist es einfach nur dunkel und zeigt seine Farbe erst, wenn man das Glas direkt gegen das Licht hält.
Die Verkostungsgläser funktionieren am besten, wenn sie wie ein Weinglas nur bis zur Stelle des größten Durchmessers eingeschenkt werden. Nur dann hat das Bier genug Raum, um sein Aroma zu enfalten. Bei den Spiegelau-Gläsern entspricht das einer Füllmenge von etwa 0,2 bis 0,3 Liter.
Meine anfängliche Skepsis ist im Lauf der Verkostung mehr und mehr der Begeisterung gewichen. Diese Gläser machen mit ihrem hochwertigen Eindruck, ihrer Leichtigkeit, der perfekten Form und der absolut glatten Oberfläche nicht einfach nur Spaß, sondern vermögen es auch, aus einem Bier auch die feinsten Nuancen an Duft und Geschmack herauszustellen. Das macht kein schlechtes Bier zu einem guten, denn auch Fehlaromen lassen sich so leichter feststellen, aber ein Spitzenbier wird noch etwas besser, wenn man es aus einem perfekten Glas trinkt.
Die Gläser sind einzeln, als Viererpackung pro Sorte oder als gemixtes Dreierset ab etwa 5 Euro pro Glas bei verschiedenen Anbietern erhältlich. Wenn man Glück hat, bekommt man sie auch mit Werbeaufdruck bei diversen Craft-Bier-Events.