Versuch ein Grimmsches Märchen für den Brauer von heute zu erschließen
„Ach wie gut, dass niemand weiß, …” Seit der ersten Ausgabe der Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm von 1812 weiß jeder Leser, dass das “lächerliche Männchen” Rumpelstilzchen heißt. Auch den Spruch:
„heute back ich, morgen brau ich,
übermorgen hol ich der Königin ihr Kind;
ach, wie gut ist daß niemand weiß
daß ich Rumpelstilzchen heiß!”
ist seither in aller Munde und auch – häufig in Abwandlungen – bei Heimbrauern und ‑bäckern beliebt. Der interessierte Brauer von heute fragt sich vielleicht irgendwann, warum es heute backen und morgen brauen will. Die verbleibenden zwei Tage bis zum Ablauf der Frist mit den wichtigsten häuslichen Tätigkeiten zu verbringen liegt nahe. Aber warum in dieser Reihenfolge?
Es wurde angeführt, dass in dem Gedicht Anklänge an die antiken Bierbrote zu finden sind, die vor dem Brauen gebacken werden mussten. Wir wissen aber auch, dass spätestens seit dem Mittelalter Bier aus Malz und nicht aus Bierbroten gebraut wurde und es für die Kenntnis des antiken Verfahrens vor den modernen archäologischen Funden keine weiteren Zeugnisse gibt.
Eine andere Erklärung sei, dass bei der Brotzubereitung Hefe aufgewirbelt wurde, so dass die Menschen die Erfahrung machten, dass die Gärung nach einem Backtag besser ankam. Wir haben aber auch Indizien einer gezielten Hefeführung beim Bierbrauen. Es ist vielmehr höchst zweifelhaft, dass man in Grimms Zeiten und weit früher noch vollständig auf Spontangärung angewiesen war. Schon im ausgehenden Mittelalter sind Verträge zwischen Brauer- und Bäckerzunft belegt, nach denen letztere den ersteren die Hefe abkaufen mussten, was später zum Münchner Bäcker- und Brauerstreit (1481) führte, weil es nach Empfinden der Bäcker unfair war, den Brauern für ihren – mit Verlaub – Abfall auch noch Geld zu zahlen. Hefe entstand beim Brauen, deshalb musste es von der Brauerei entsorgt werden. Kurzum: Hefe war für jedermann verfügbar, sei es zum Backen oder zum Brauen.
Ein weiterer Erklärungsversuch beschreibt, dass die noch warmen Backöfen zum Darren des Malzes benutzt wurden und deshalb die Reihenfolge erst Backen, dann Brauen sinnvoll war. Das ist plausibel, jedoch ist hier nur der zeitliche Zusammenhang des Backens zum Darren hergestellt, nicht zum Brauen. Es spricht einiges dafür, dass nicht sofort nach dem Darren auch gebraut wurde. Im Gegenteil: Gemälzt wurde vornehmlich im Sommer, gebraut im Winter.
Schlüssel zum Verständnis des Gedichtes bietet die Arbeitsweise von Jakob und Wilhelm Grimm und die Zusammenschau der verschiedenen Textversionen. Beide sammelten Märchen, die bisher vermeintlich nur mündlich tradiert wurden und schrieben sie auf. Sie zeichneten das Gehörte jedoch nicht Wort für Wort auf. Von einer Erzählerin (Dorothea Viehmann) berichten sie in der Vorrede zu den Kinder- und Hausmärchen: „Dabei erzählte sie bedächtig, sicher und ungemein lebendig, mit eigenem Wohlgefallen daran, erst ganz frei, dann, wenn man es wollte, noch einmal langsam, so daß man mit einiger Übung nachschreiben konnte. Manches (also längst nicht alles oder sogar das meiste nicht; Anm. des Autors) ist in unserer Sammlung auf diese Weise wörtlich beibehalten …”. Die niedergeschriebenen Märchen waren also nur Skizzen, die später ausgeschmückt wurden.
Dabei gingen die Brüder arbeitsteilig vor, Jakob Grimm war eher der akribische Philologe, Wilhelm der Gestalter und Dramaturg. Diese Arbeitsteilung war nicht immer konfliktfrei, aber doch höchst erfolgreich und durch die über 170 Übersetzungen auch international und so nachhaltig, dass heute die Grimmschen Märchen der letzte Rest literarischer Allgemeinbildung darstellt. Für die moderne Film- und Unterhaltungsindustrie sind die Märchen ein wahrer Steinbruch und sie werden durch die ständigen Neubearbeitungen lebendig gehalten.
Zurück zur Grimm’schen Arbeitsweise: Wegen der Erweiterungen und Ausgestaltung konnte z.B. das Märchen vom Rumpelstilzchen in der ersten handschriftlichen Fassung in wesentlichen Details von der späteren Buchfassung abweichen. Das zitierte Gedicht fehlt ganz. Auch viele uns heute durch die letzte Fassung vertraute Züge des Märchens fehlen noch oder sind auf den Kopf gestellt. So ist in der ersten Fassung davon die Rede, dass beim Versuch des armen Mädchens Flachs zu spinnen immer nur Gold herauskam, was als Problem dargestellt ist, nicht als wundersame Fähigkeit, derer sich der Vater in der Buchfassung rühmen kann. Diese Änderungen lassen sich nur zum Teil auf die verschiedenen Erzählquellen zurückführen (im Falle des Rumpelstilzchen waren das neben Dortchen Wild auch die Fam. Hassenpflug, der Schluss stammt von Lisette Wild).
In Märchen, so weiß es die Forschung, sind uns komprimierte Erfahrungen vieler Generationen überliefert. Es sind auch Stoffe, die unter den jeweiligen Umständen über viele Generationen der mündlichen Überlieferung mythisch verdichtet wurden. Beim Blick auf die Textlage muss man aber im Falle des Gedichts einräumen, dass es nicht auf einer alten mündlichen Quelle basiert, sondern von Wilhelm Grimm als gestaltendes Element eingefügt wurde und dass in ihm die häusliche und kommunale Praxis des frühen 19. Jahrhunderts gespiegelt ist.
Jeder (Heim-)Brauer, der einmal Treber über mehrere Tage aufgehoben hat, weiß, dass er rasch verdirbt. So liegt es nahe, ihn schnell nach dem Brautag zu verwerten. Einiges spricht also dafür, dass ein “Heute brau’ ich, morgen back’ ich” bei weitem die vorteilhaftere Abfolge ist und für die fragliche Zeit auch Praxis war: Beim Brauen fallen große Mengen Treber an, mit dem man den Brotteig strecken kann und so teures Mehl spart.
Warum aber tritt Rumpelstilzchen im Märchen mit einem Spruch auf, der offensichtlich die gängige Praxis – erst brauen, dann backen – auf den Kopf stellt?
Nun, Rumpelstilzchen, das lächerliche Männchen, ist im Märchen ein Geistwesen. Hier im besonderen eines, dass man mit dem Verschwinden und dem Tod von Kindern in Verbindung bringt. Man denke an die bis zur Industrialisierung heute unvorstellbar hohe Kindersterblichkeit von der auch Familie Grimm heimgesucht wurde. Den Grimms selbst starben 3 von 7 Geschwistern. Unter dem Einfluss einer monotheistischen Glaubensweise wie dem Christentum, haben diese Geistwesen nur zwei Möglichkeiten einen Platz in der Tradition zu finden: Sie werden entweder zu Helfern der Gottheit (Heiligen, Engeln oder dergleichen) oder Versuchern (Dämonen, Teufeln etc.). Da die Rolle des Rumpelstilzchen eindeutig eine gefährdende ist, werden ihm auch entsprechende Attribute gegeben, bis hin zur verdeckten Selbstbezichtigung “Das hat dir der Teufel (Anm. des Autors: nämlich Rumpelstilzchen selbst) gesagt”.
Und das Phänomen des Namenszaubers im Märchen stützt dies: Die Königstochter kann durch Kennen und Nennen des Namens, Macht über den Dämon bekommen. Eine offensichtlich magische Vorstellung, allerdings mit Auswirkungen, die für jeden erkennbar sind (etwa im Phänomen der Deutungshoheit, im Marken- oder Namensrecht). Auch im alltäglichen Umgang spielt der Name einer Person eine große Rolle. Ich überlege, wem ich meinen Namen preisgebe. Wessen Namen ich kenne, zu dem habe ich in der Regel ein anderes Verhältnis, als zu einem nicht namentlich Bekannten. Es macht einen Unterschied, ob ich jemanden mit Namen ansprechen kann und anspreche oder nicht. Die Behauptung des Doktor Faust, Namen seien „Schall und Rauch”, will das plump verschleiern. Siehe auch das Phänomen performanter Sprache, die durch den Sprechakt Fakten schafft (das Ja-Wort bei der Eheschließung, das Urteil eines Richters, der Ausspruch eines Dankes oder Grußes oder die Erschaffung eines Wesens durch die Namensgebung in Christian Morgensterns Gedicht „Das Nasobem”).
Aber auch Dämonen handeln nach Spielregeln: Ob Rumpelstilzchen tatsächlich Mitleid hatte, wie im Märchen angedeutet, oder ob er, weil ungerufen erschienen, dem Mädchen mit der Findung des Namens noch eine Chance geben muss, lassen wir offen. Sein Wesen offenbart sich in jedem Fall als es in seinem diabolische Tun (ganz im Sinne des Ursprungs des Wortes: διαβάλλω=durcheinanderwerfen), dann logischerweise die sinnvolle und gute Abfolge erst zu brauen und dann zu backen durcheinanderbringt und vor dem Brauen backen will.
Der Brauer von heute tut gut daran, nicht dem Beispiel von Rumpelstilzchen zu folgen, sondern im Sinne der Nachhaltigkeit zuerst zu brauen und dann zu backen, und – wenn er sich zum Backen nicht berufen sieht – den Treber einer vernünftigen Nutzung zuzuführen, z.B. als Tierfutter, Biogasrohstoff oder Kompost.
Titelbild: Illustration von Walter Crane zu Rumpelstilzchen aus einer einer englischen Übersetzung der Grimmschen Hausmärchen von 1886