Vermutlich gibt es den Brauer nicht, der von der Neugier geheilt ist. Mit zunehmender Erfahrung verschiebt sich nur der Punkt, an dem die Neugier über die Vorsicht siegt, nach hinten – irgendwann muss man einmal anfangen, den Restextrakt zu messen.
Man verbringt Tage damit, das perfekte Rezept zu designen, und beginnt den langen Brautag. Das Malz wird gewogen und konditioniert, die Quetsche feinjustiert, das Brauwasser getunt, die Temperatur beim Maischen skeptisch kontrolliert, und dem Kocher wird permanente Schützenhilfe geleistet. Wirklich nichts wird dem Zufall überlassen. Nach dem Rehydrieren der Hefe und dem Anstellen beginnt die Ungewissheit, und der Kontrollverlust sägt an den Nervenenden. Tagelanges Warten, deuten von Blubberintervallen, und irgendwann diese endlose Stille. Verändert sich der Restextraktgehalt noch, oder ist es Zeit zum Abfüllen? Der Flaschengärer und der Zwangskarbonisierer werden ungeduldig und der Grünschlaucher nervös, den perfekten Zeitpunkt zu verpassen. Doch bei jedem Öffnen des Gärbehälters pocht das schlechte Gewissen, den heiligen Sud dabei zu infizieren.
Als Hobbybrauer-Quereinsteiger bin ich von Anfang an über diesen Status quo gestolpert. Es wird quasi nichts dem Zufall überlassen, aber zum Verlauf der Gärung hat man selten mehr als ein vages Bauchgefühl. Wäre es nicht schön zu messen, wann die Hefe angekommen ist? Von der Arbeit aus zu beobachten, wie der Extraktegehalt des Jungbiers abnimmt? Rechtzeitig zu erkennen, dass die Hefe doch nicht ankommt? Die echte Temperatur im Gäreimer zu kennen, anstatt Annahmen anhand der Außentemperatur zu treffen? Würde man sich nicht über eine Weck-SMS freuen, wenn der der perfekte Zeitpunkt zum Grünschlauchen gekommen ist? Oder getrost in den Urlaub fahren und das Anheben auf Diacetylrasttemperatur von einer Automatik steuern lassen?
Das Experiment
Ganz klar! Es musste eine Lösung dafür gefunden werden. Das Prinzip der Spindel zur Messung der Dichte ist bewährt und vor allem portabel, einfach zu handhaben und gut sauber zu halten.
Folglich wäre eine Spindel ideal, deren Messwert digital gelesen werden kann. Der erste Ansatz war, die Eindringtiefe durch zwei Elektroden zu messen. Dabei stellte sich heraus, dass die Kräusen elektrisch leitend sind und das Ergebnis verfälschen. Es musste ein anderes Prinzip her! Bei der Recherche kamen mir das Kickstarter-Projekt Tilt und dessen Prinzip eines kippenden Zylinders zu Augen. Das wäre eigentlich die perfekte Lösung, wenn es nicht die Einschränkungen gäbe, die durch die Bluetooth-Übertragung gegeben sind. Die Erfordernis, mit dem Smartphone in die Nähe des Gärfasses gehen zu müssen, widerstrebt der eigentlichen Idee, alles aus der Ferne zu überwachen und automatisch die Daten weiterverarbeiten zu können.
Wenn man sowieso an Flugsteuerungen arbeitet, ist folglich der nächste logische Schritt, die Lageerkennung der elektronischen Spindel mit einem WLAN-fähigen Mikrocontroller zu kombinieren, um die Daten des Beschleunigungssensors im WLAN zur Verfügung zu stellen. Von nun an hat man alle Freiheiten und kann darauf aufbauen.
Das Konzept
Die Wahl fiel auf den ESP8266, da dieser leicht verfügbar und schon in vielen verschiedenen Boards zur Verfügung steht. Dazu kommt ein klassischer Beschleunigungssensor MPU60x0, der aus der Smartphone-Produktion stammt, durch seine Genauigkeit seinen Siegeszug antrat und inzwischen Quasi-Standard bei der Kopter-Flugsteuerung geworden ist. Mit etwas Trickserei passt er Huckepack auf den Microcontroller, womit das Test-Setup schon fast zusammengestellt war. Eine LiPo-Zelle bringt die nötige Versorgungsspannung, und nach einem Abend war eine erste Firmware gestrickt, die die Daten senden kann. Das Experiment konnte beginnen. Als Gehäuse musste ein Brausetablettenbehälter herhalten, der genügend Platz für die Bauteile hergab.
Doch wie verhält sich ein schwimmender Zylinder in Schräglage nun bei Dichteänderungen? Dazu ergab die Recherche im Internet erschreckend wenig Aufschluss, also mussten empirische Erfahrungen gesammelt werden.
Eine Testreihe zur Simulation verschiedener Extraktgehalte wurde aufgebaut. Testlösungen mit reinem Leitungswasser und typischen Eckwerten zwischen 2 und 20° Plato wurden angemischt und die Brausetabletten-Spindel darin versenkt, die dann munter ihren Winkel an den Computer sendete. Das kontinuierliche Hinzugeben von Trimmgewichten hat schnell ergeben, dass ein Bereich existiert, in dem es größere Winkeländerungen bei unterschiedlichen Dichten gibt. Die gesammelten Messwerte ergaben, dass der Bereich mit der höchsten Empfindlichkeit bei 45 Grad Neigung liegt und in diesem Bereich ein annähernd linearer Kurvenverlauf vorliegt.
Wenn man nun diesen Bereich um die Mitte der zu erwarteten Stammwürze ansiedelt (10 °P), ergibt das einen „Sweet Spot” von ca. 25° in reinem Wasser. Damit waren wichtige Grundlagen gesammelt, und der echte Test musste erfolgen.
Nun musste ein schneller Sud gebraut werden, um das Erforschte zu belegen. Leider war nach einem Tag Betrieb auch schon der Akku leer, denn der ESP mit WLAN ist logischerweise – was Mikrocontroller betrifft – ein Stromfresser. Eine intelligentere Lösung musste her!
Das Schlafen
Das Datenblatt brachte eine wertvolle Funktion zutage, die es ermöglicht, den Mikrocontroller gezielt in den Schlafzustand zu schicken respektive wieder aufzuwecken. Im Grunde wird er auch nur dann benötigt, wenn er die WLAN-Verbindung aufbaut, den Sensor ausliest und die Daten sendet. Da sich die Dichte während der Gärung auch nur sehr langsam ändert, ist es völlig unproblematisch, den Microcontroller 99 % seiner Zeit in den Schlafzustand zu schicken. Da der Stromverbrauch in diesem „deep sleep” um den Faktor 1.000 geringer ist, kann man ableiten, dass die Energiemenge des Akkus eine bestimmte Anzahl Datensätze erzeugen kann oder im Umkehrschluss die Laufzeit abhängig von der Schlafenszeit ist. Mit anderen Worten, eine lange Laufzeit ist möglich, wenn man die Pausen entsprechend verlängert.
Die Messwerte
Das Experiment verlief erfolgreich, jetzt musste nur noch ein attraktiver Webdienst gefunden werden, der die Daten ansprechend aufbereiten kann. Der Anbieter Ubidots kristallisierte sich als guter Kompromiss heraus. Dort kann man auch die Daten weiterverarbeiten, den Winkel in Extraktgehalt umrechnen und automatische Benachrichtigungen versenden.
Das Projekt
Wie geht es jetzt weiter mit dem Projekt? Wie aus dem Testaufbau eine stabile Lösung bauen, was gibt es für attraktivere Behältnisse als die Brausetablette? Besteht eigentlich Interesse seitens anderer Hobbybrauer?
Nach der ersten Vorstellung der iSpindel im Hobbybrauerforum war klar: Das Interesse ist überwältigend! Durch das Feedback im Forum wurde das Projekt konstruktiv vorangetrieben. Petlinge aus der Getränkeindustrie fanden sich als geeignetes Gehäuse, und der 3D-Druck-Schlitten zur stabilen Unterbringung der Bauelemente im Petling ergab eine stabile Montage der Bauelemente. Herbert Schmid aus Österreich erstellte das Platinenlayout der ersten iSpindel-Platine und organisierte mit einigen freundlichen Helfern eine großangelegte Sammelbestellung, wodurch sich der Zusammenbau deutlich vereinfachte. Jens Warkentin bemühte sich im Hintergrund intensiv um verlässliche Lieferquellen für Petlinge und Deckel und fand einen Händler, der 3D-Drucke liefern konnte und bereit war, alle Bauteile in Form eines Pakets anzubieten.
Das Projekt iSpindel war geboren. Eine Kommerzialisierung ist nicht mein Ziel, was auch wegen des patentrechtlich geschützten Prinzips des Tilt-Hydrometers problematisch geworden wäre. Stattdessen ist das Projekt zum nichtkommerziellen Nachbau freigegeben. Quellcode und Firmware samt Dokumentation und Schaltplänen sind veröffentlicht, und ein Händler wurde gefunden, der alle benötigten aktiven und passiven Teile zum Nachbau in einem Paket anbietet.
In den folgenden Artikeln wird näher auf den genauen Aufbau eingegangen. Wer sich das nicht zutraut, kann mich gerne im Forum oder über mail@iSpindel.de anschreiben; wir organisieren für solche Fälle regelmäßig Kleinserien.
Der Status quo
Die iSpindel hat ihren weltweiten Siegeszug angetreten. Neben tausenden Nachbauten durch Hobbybrauer aus aller Welt wird das iSpindel-Komplettpaket von 3D Mechatronics nach dem ersten Ansturm etwa 350–400 Mal pro Jahr verkauft. Hinzu kommen viele Platinen, 3D-Druck-Schlitten und Petlinge im Einzelverkauf. Die Kundschaft beschränkt sich nicht auf den deutschsprachigen Raum. Die weitesten iSpindel-Kunden kommen aus Dubai, Australien, Südkorea, Brasilien und den USA. Viele aus Norwegen, den Niederlanden, Spanien und Italien.
Ebenso positiv hat Ubidots auf die stetig wachsende Zahl der iSpindel-Nutzer reagiert. Dort hat man selbst mit dem Brauen begonnen und nutzt wie selbstverständlich die iSpindel zum Überwachen der Gärung. Ende letzten Jahres gab es ein Brainstorming mit Agustin Pelaez, dem CEO von Ubidots, um herauszufinden, wie die iSpindel noch besser durch die Online-Plattform unterstützt werden kann. Dabei wurden viele Anregungen ausgetauscht und das Feedback aus der Hobbybrauer-Community diskutiert.
Das Messinstrument?
Kann man nun seine klassische Spindel, das Refraktometer oder gar das EasyDens entsorgen?
Natürlich nicht! Es muss bedacht werden, dass die iSpindel kein Präzisions-Messinstrument sein will, sondern nur den Extraktabbau über die Zeit darstellen kann. Eine höhere Genauigkeit als +/- 0,5 %w/w ist nicht zu erwarten. Während der Gärung sind die Störeinflüsse im Gärbottich sehr hoch. Die iSpindel kann von Kräusen überlagert werden, Brandhefe kann an ihrem Deckel kleben, und CO2-Bläschen können sie nach oben ziehen. Das führt folglich zu Abweichungen, vergleichbar mit einer normalen Spindel, die in der wallenden Gärung auch keine präzisen Messwerte ermöglicht.
Jedoch ist die iSpindel trotz dieser „Nebengeräusche” sehr präzise in der Lage, Dichteänderungen im Jungbier zu messen. Dabei ist sie wesentlich sensibler als eine klassische Spindel, die alternativ zur Messung des Restextrakts verwendet werden würde. Es kommt vor, dass das Ende der Gärung sehr schleppend verläuft. Einen Extraktabbau von 0,05 %w/w pro Tag könnte man mit einer klassischen Bierspindel oder mit dem Refraktometer schlichtweg nicht erkennen. Mit der iSpindel ist das kein Problem, sogar ohne dabei den Gäreimer zu öffnen. Die iSpindel ersetzt also nicht das Messen des Restextrakts am Ende der Gärung, aber sie liefert deutlich wertvollere Informationen über den Gärverlauf.
Die Zukunft
Kein Projekt ohne Verbesserungsmöglichkeiten. Die Software wird permanent verbessert, bis heute sind schon über 30 kleinere und größere Neuerungen eingebaut worden. Darunter fallen vereinfachte Updates, viele unterschiedliche Server-Systeme, die neben dem ursprünglichen Ubidots unterstützt werden. Es besteht doch ein großes Interesse, die Daten im „Haus” zu belassen. Das widerspricht dem Prinzip ja nicht, im Gegenteil soll jeder mit seinen Daten anfangen, was er will. Auch in Zukunft wird es weitere Schnittstellen geben; es hat sich jedoch eine allgemeine Schnittstelle gebildet, die wiederum von den verschiedenen Serversystemen implementiert und ausgewertet werden kann.
Remote Konfiguration
Weitere größere Anpassungen entstehen mit der demnächst fertiggestellten Funktion, die Intervall-Einstellung von außen ändern zu können. Mit einer zukünftigen Firmware-Version wird es möglich sein, die Intervalle nicht nur durch die Konfigurationsseite zu konfigurieren, sondern während der Gärung über das Ubidots-Dashboard anzupassen. Andere Server-Backends werden folgen.
Dadurch erhält man die Möglichkeit, am Anfang der Gärung eine schnelle und genaue Auflösung zu erhalten bzw. im späteren Verlauf, wenn sich die Gärung verlangsamt, den Akku zu schonen. Man kann damit womöglich auch vermeiden, die iSpindel für jeden Sud neu konfigurieren zu müssen, was den täglichen Einsatz doch erheblich vereinfachen würde.
Als Beispiel, wie das eingerichtet wird, hier bebildert anhand Ubidots. Im Dashboard fügt man ein Widget „Slider” hinzu, den man auf die Variable „interval” verbindet.
Nun hat man einen Schieberegler, der von der iSpindel in regelmäßigen Abständen abgefragt wird und die Intervallzeit intern ersetzt. Natürlich gehört etwas Vorsicht dazu, denn ein hoher Wert wird den nächsten Kontakt entsprechend lange verzögern.
Die Signalstärke
Eine weitere nützliche Funktion ist das Übermitteln der Empfangsstärke der iSpindel als Datenquelle. Damit lassen sich Situationen klären, bei denen nicht alle Werte empfangen wurden, und die Frage beantworten, ob man einen WLAN-Extender in der Nähe des Gärbehälters installieren sollte. Als Anhaltspunkt kann gelten, dass der RSSI nicht unter ‑80dBm liegen sollte.
… und mehr
Weiterhin wird an der Möglichkeit geforscht, über einen Helligkeitssensor und eine Lichtquelle im Infrarot- oder Ultraviolett-Bereich die Trübung zu messen, um damit noch mehr Details zur Hefeaktivität zu erhalten.
Die vermutlich größte Neuerung wird sein, die Reichweite zu erhöhen. Da WLAN im 2,4‑GHz-Bereich begrenzte Reichweite hat und kaum die Fähigkeit besitzt, durch Wasser oder Edelstahlbehälter zu dringen, ermöglicht die Nutzung eines niederfrequenten Frequenzbands eine neue Dimension an Reichweite. Damit sind dann auch weitere Experimente von Unterwassermessungen möglich. In dem Zusammenhang wird mit einer neueren MCU experimentiert, und auch ein Display mag möglich sein. Sobald das verfügbar ist, werde ich Details im Hobbybrauer-Forum bzw. auf der Webseite www.ispindel.de ankündigen. Bleibt also dabei!