Bier aus his­to­ri­schen Quellen

Was wir über Bier aus historischen Quellen erfahren können (und was nicht)

Reproduzieren historischer Biere am Beispiel des Prager Weißbieres nach Thaddaeus Hagecius "De Ceruisia"

Ad fontes

Titelblatt der Originalausgabe

"Zu den Quellen" war das Motto der frühneuzeitlichen Humanisten. Es sollte auch das Motto für jeden sein, der sich auf die Suche nach historischen Fakten zum Bierbrauen macht. Es gilt also nicht nur die Interpretationen der Traditionalisten zu studieren, sondern die archäologischen oder literarischen Zeugnisse in Bibliotheken, Archiven und Museen in Augenschein zu nehmen. Viele dieser Dokumente sind heute digitalisiert und für jedermann leicht zugänglich.

Eine bisher wenig beachtete Quelle für die Braupraxis des 16. Jahrhunderts findet sich in Thaddaeus Hagecius' (1525-1600) "De ceruisia eiusque conficiendi ratione" . Den Hinweis auf die Schrift verdanke ich Dr. Nikolaus Thurn von der Freien Universität Berlin in Dahlem, der mir auch eine unveröffentlichte Übersetzung zur Verfügung stellte.

Hagecius' Zeit in Prag

Thaddaeus Hagecius

Thaddaeus Hagecius, in: 87 Abbildungen Böhmischer und Mährischer Gelehrten und Künstler, in Kupfer gestochen und verlegt von Johann Balzer, Prag 1772, S. 64

Unter Karl IV. und seinem Sohn Wenzel IV. war Prag im 14. Jahrhundert zu einer der bedeutendsten Städte Europas aufgestiegen. Die Hussitenkriege im 15. Jahrhundert unterbrachen diesen Aufstieg und erst Rudolf II. (1552-1612) machte Prag wieder zur Kaiserresidenz.  Wird Rudolf II. heute als eher schwacher Herrscher angesehen, so brachte er jedoch Kunst, Wissenschaft, Bautätigkeit und geistiges Leben nach Prag, wie sie die Welt seit Karl IV. nicht mehr gesehen hatte.

In diese Zeit fiel das Wirken von Thaddaeus Hagecius. Er war zum einen Astronom und als solcher Verleger von Kalendern und Horoskopen sowie an der Berufung Tycho Brahes und Johannes Keplers nach Prag beteiligt, zum anderen war er als Mediziner Leibarzt zweier Kaiser und böhmischer Könige sowie Mitverfasser und Übersetzer  von Mattiolis Herbarium (deutsch "Neuw Kreütterbuch" von Georg Handsch) ins Tschechische. Zur Würdigung seiner wissenschaftlichen Leistung wurde ein Mondkrater nach Hagecius benannt. Wolfgang Herrndorf erinnert an ihn in seinem Roman "Tschick", indem der Autor die Hauptfigur das fiktive Hagecius-Gymnasium besuchen läßt. Tatsächlich steht das Namenspatronat für eine Schule selbst in seiner Heimatstadt Prag noch aus .

"Was hat der Held mit seinem Bier?"

Hagecius profitierte nun nicht nur von seinem Umfeld, sondern gestaltete es selbst mit. In der Widmung bekommen wir möglicherweise einen Anhaltspunkt über den Anlass für die Abfassung der Schrift: einerseits das Anraten von Julius Alexandrinus von Neustein (ebenfalls Mediziner, Schüler und Übersetzer von Galen), andererseits eine Auseinandersetzung mit Johanns Placotomus. Für eine klärende Untersuchung ist hier aber nicht der Platz. Nur so viel: Über Absicht und Ziel seines Werkleins “Über das Bier und die Art seiner Herstellung, seiner Natur, Kräfte und Energien”, so der vollständige Titel, schreibt der Prager Gelehrte in der Widmung: “Deswegen habe ich versucht, in diesem kleinen Büchlein sowohl die Zubereitung wie auch die (dialektischen) Gründe (causae), aus denen die Beschaffenheit (natura) des Biers völlig einsichtig werden kann, zu formulieren” .

Ihm geht es also nicht darum, der Nachwelt eine Brauanleitung für sein vertrautes böhmisches Weizenbier zu hinterlassen, sondern aus dem Wissen der Zutaten und der Verfahren die natura - und daraus auch die vires (Kräfte) und facultates (Energien) des Bieres herzuleiten: Im Fokus seiner Untersuchung steht eine medizinische Beschreibung des Biers im Licht der damals vorherrschenden galenischen Schule . Zwar war auch die paracelsische Lehre schon veröffentlicht, sie setzte sich aber erst mit einer Verzögerung von mehreren hundert Jahren durch. Die medizinischen Aspekte nehmen mithin weite Teile des Werkes ein, besonders das große Kapitel 12. Ich lasse sie in meinem Artikel außer Betracht, weil für ihn die technologischen Aspekte des Brauprozesses im Vordergrund stehen sollen.

Wir erfahren leider nicht, in welcher Brauerei Hagecius seine Recherchen anstellte. Wir werden auch nicht erfahren, wie das Bier - im Vergleich mit den uns heute bekannten Biersorten - genau schmeckte. Es spricht jedoch einiges dafür, dass der Autor nicht nur medizinisches Interesse an der Cerevisia hatte, sondern auch einen guten Humpen sich einzuverleiben selbst nicht abgeneigt war. Schon das Widmungsschreiben artet gelegentlich in eine Verteidigungsrede für das Bier aus. Wissenschaft sine ira et studio - gibt es sie überhaupt? - sähe anders aus. Er übergießt solche Zeitgenossen mit Spott, die den Wein über das Bier stellen: "Aber da werden hier freilich die Naseweise herumschwätzen, auch jene Verzärtelten, die an täglichen Luxus gewöhnt sind und sprechen: 'Was hat der Held mit seinem Bier?" Und: "Wer wäre so wahnsinnig und barbarisch, dass er die Kenntnis von seiner [des Bieres] Herstellung und der Feststellung seiner Natur als unehrenhaft bezeichnete?"

Charakteristiken der Bierbauerei um 1585 in Prag

Bevor wir uns diese genauer anschauen noch ein Blick auf die Gliederung des Büchleins. Sie könnte so ähnlich auch in jedem heutigen Buch zum Bierbrauen genutzt werden:

  1. De potuum generibus - Über die Arten der Getränke
  2. De varia appellatione illius potus, qui ex granis frumentaceis conficiebatur olim, et nunc quoq conficitur - Über die verschiedenen Namen jenes Getränks, welches früher aus Getreide gemacht wurde und auch jetzt noch gemacht wird
  3. De electione frumenti, eiusque in Maltum, seu Polentam, seu Bynum, praeparatione, ad Ceruisiae cocturam - Über die Wahl des Getreides und dessen Vorbereitung zu Malz (oder Polenta oder Bynus), um damit Bier zu sieden
  4. De praeparatione Cremoris polentacei ad Cereuisiae cocturam - Über die Herstellung der Maische zum Bierbrauen
  5. De additione lupuli, qui dat formam Cereuisiae - Über die Zugabe des Hopfens, welcher dem Bier die Gestalt gibt
  6. De additione faecum seu crassamentorum Cereuisiariarum - Über die Zugabe des Bodensatzes oder des Festen der Biere
  7. De infusione Cereuisiae in serias - Über das Füllen des Bieres in Fässer
  8. De transuectione Cereuisiae iam ad bibendum apta - Über die Beförderung des trinkfertigen Biers
  9. De consideratione causarum in adiectione lupuli - Über die Betrachtung der Gründe einer Zugabe von Hopfen
  10. De causis permistionis faecum Cereuisiariarum - Über die Gründe Bierhefen unterzumischen
  11. De Cereuisiarum differentiis - Über die Unterschiede zwischen den Bieren
  12. De viribus et facultatibus Ceruisiarum in genere - Über die Kräfte und Energien der Biere allgemein
  13. De Ceruisiis facticiis seu conditis - Über künstliche oder gewürzte Biere
  14. De iis qua ex Ceruisia parantur - Über das, was aus Bier zubereitet wird

Mälzen und Schüttung

Die Bierherstellung beginnt in der Beschreibung Hagecius’ mit dem Weichen des Weizens. Auffällig im Unterschied zur heutigen Praxis ist nicht nur, dass das Mälzen viel enger mit dem Brauvorgang verbunden war, sondern, dass für die ceruisia triticea seu alba (wörtlich Weizen- oder Weißbier, wobei seu immer alternative Bezeichnungen für dieselbe Sache verbindet) ausschließlich Weizenmalz als Extraktquelle verwendet wurde. Dieses Bier wurde so nicht nur in Prag gebraut, sondern war auch über "das ganze Königtum Böhmens und Polens, ja darüber hinaus auch noch in einigen Fürstentümern und Städten Deutschlands" verbreitet. Andere Biere wurden ebenfalls so oder so ähnlich gebraut, seien sie aus Weizen, Gerste oder einer Mischung aus beiden. Auch hält Hagecius fest, welche Beschaffenheit der Weizen idealerweise hat; man nehme nämlich "den schwersten und glänzendsten", welcher der Winterweizen ist .

Steinerner Strich

Steinerner Strich auf dem Ring von Schönberg an der Moldau/Krásná Hora nad Vltavou (Von Richenza - Eigenes Werk, CC BY-SA 3.0, Link)

Bei der Umrechnung der Maße sind generell folgende Umstände zu beachten: Dieselbe Bezeichnung für eine Maßeinheit konnte an verschiedenen Orten unterschiedliche Größen haben. Dazu änderten sich die Größen über die Zeit, besonders wenn es zu Reformen des Maßsystems kam. Zudem konnte ein und dieselbe Bezeichnung unterschiedliche Größen haben, je nach dem was damit gemessen wurde: Z.B. war ein Haferscheffel etwas anderes als ein Kohlenscheffel. Zuletzt kann ein und dieselbe Bezeichnung sowohl für ein Flächenmaß als auch für ein Hohlmaß verwendet werden (so z.B. der Strich, der uns hier begegnet). Es sind also 3 Dimensionen zu berücksichtigen Zeit, Ort, Messgegenstand. Wer sich mit historischen Quellen befasst, wird nicht umhinkommen Nachschlagewerke zu den verwendeten Maßeinheiten zu konsultieren. Eine ganze Reihe sind leicht online verfügbar: Johann Friedrich Krüger: Vollständiges Handbuch der Münzen, Maße und Gewichte aller Länder der Erde. Gottfried Basse, Quedlinburg/Leipzig 1830 oder auch Carl Günther Ludovici: Eröffnete Akademie der Kaufleute, oder vollständiges Kaufmanns-Lexicon. 2. vermehrte und verbesserte Auflage Breitkopf, Leipzig 1767–1768 (5 Bände; mehrfach überarbeitet und erweitert).

Davon werden 20 chori seu modii mensura Pragensis (=Prager Striche) gemälzt, was für einen Sud von 23 uasa (=Fässern) genügt. Problematisch für den Leser ist hier die Deutung der Maße. Hagecius benutzt für seine Maßangaben Einheiten, die schon im Altertum gebräuchlich waren und deren antike Entsprechung uns auch bekannt ist. Ganz sicher hat er aber nicht aus den zeitgenössischen Maßen zurück in die antiken umgerechnet, sondern lediglich für die vor Ort benutzten Maße lateinische Ausdrücke eingesetzt. So wurde aus dem Prager Strich (tschechisch korec; 93,398 l) ein chorus (eigentlich Chore; ein antikes Raummaß), was auch lautlich zusammenpasst, aus dem Fass (tschechisch sud; 245,812 l) das uas und aus dem Eimer (61,453 l) die urna.

Ein Metzen ausgestellt in der Rosenauer Mühle (Horaschdowitz/Horažďovice)
Autor: Jitka Erbenová (cheva) – Vlastní dílo, CC BY-SA 3.0, Odkaz

Demnach werden 1868 Liter (=1245 kg) Weizen für 5856 Liter Bier benötigt. Damit haben wir zunächst einige Anhaltspunkte für die Messgrößenwerte, nämlich 10,8 °P und je nach dem - uns natürlich nicht bekannten oder zu erschließenden - Vergärungsgrad etwa um 4,5 %vol bei angenommenen 50% Sudhausausbeute. Möglich aber auch, dass in die Ausschlagmenge ein Nachbier fällt. In diesem Fall wären die Angabe zur Stammwürze und Alkoholgehalt nur ein Durschschnittswert für die Gesamtmenge beider Biere. Wie dem auch sei, ist uns hier die Sudgröße der Brauerei, aus der Hagecius seine Informationen hatte, übermittelt.

Zum Prozess des Mälzens nur soviel: Unter der Darre wird ein Holzfeuer entfacht, vorzugsweise aus Eichenholz, aber auch aus Birke oder Buche. Zum Schroten wird das Malz in die Mühle gefahren . Ab Kapitel 4 wird dann schließlich der eigentlich Brauprozess beschrieben .

Maischarbeit

Als Brauwasser wird ausdrücklich Quellwasser genannt, obwohl auch Flusswasser erwähnt wird und zur Verfügung stand. Das aber wurde nur zum Weichen verwendet. Viermal wird die metallene Pfanne, die auf einem Herd aufliegt, mit Wasser gefüllt. Sobald es kocht, wird das Wasser in einen Bottich umgeschöpft. Bei den 1245 kg Schüttung und einem wiederum angenommenen Malz-Wasser Verhältnis von 1:3 kommen wir auf 3735 l Guss. Demnach fasst die Pfanne 934 l und der Maischbottich 4669 l, wenn wir davon ausgehen, dass Nachgüsse aufgebracht werden, was in der Beschreibung des Ablaufs nicht erwähnt wird. Der Maischbottich könnte auch wesentlich größer gewesen sein. Zur Problematik der Nachgüsse und des Nachbiers später noch mehr.  Wir halten fest, dass mit einer Pfanne von rund 120 cm Durchmesser (halbkugelförmig) oder einer Kantenlänge von von kanpp 1 m (quadratisch) ein stattlicher 60 hl Sud gebraut wurde.

Eine letzte Unsicherheit bei der genauen Bestimmung der Maße bleibt jedoch. Die Vereinheitlichung innerhalb eines Herrschaftsgebiets waren oft Mammutprojekte und sogar erfolgreiche Umsetzungen, wie unter Maria Theresia 200 Jahre nach Hagecius’ Publikation waren nicht immer dauerhaft oder auch nur annähernd vollständig, sodass lokale Maße auch innerhalb einer Region in Gebrauch blieben . Erst im 19. Jahrhundert konnte sich von Frankreich aus ein einheitliches System in Europa - wenn auch diesmal wiederum unvollständig - durchsetzen.

Ging die Rekonstruktion mit Hilfe einiger Annahmen bis hierher einigermaßen glatt, werden wir von einer Randbemerkung kurz aus der Bahn geworfen: "In Iglau in Mähren wird ein besonders starkes Bier gebraut und sogar bis nach Wien verkauft" . Dort werden 52 mensurae (=Maße) Malz für 100 urnae (=Eimer) Bier verwendet. Das Bier war mit 5-6 Maßen derselben Einheit Hopfen auch bitterer als das Prager (2-3 Maße). Iglau braute also etwas größere Sude bei 2 ½-facher Schüttung. Kaum möglich!

Also zurück zur Quelle: Dort wird zwar bei den Mengenangaben zum Iglauer Bier von mensura gesprochen, ohne aber wie beim Prager Äquivalent anzugeben, wo sie galt: in Iglau, wo das Bier gebraut wurde oder in Prag, wo der Autor die Angaben aufzeichnete. Um nicht von einer Art Double-Imperial-Strong-Wit auszugehen, schauen wir nochmal nach einer möglichen Alternative zum Prager Strich als Einheit für die Angabe aus Iglau. Eingedenk der Tatsache, dass Mähren (wie die Lausitz und Schlesien) zwar zu den Ländern der böhmischen Krone gehörte, jedoch "Ausland" war und tatsächlich der Prager Strich nicht in Gebrauch war, entscheiden wir uns für den mährischen Metzen von 53,5 l, womit wir bei 1855 kg Schüttung 15,3 °P und 6,6 %vol sind. Nach heutigen Maßstäben immer noch ein veritabler Weizenbock, wobei auch hier der Einfluss der Werte für das Nachbier unberücksichtigt sind.

"Der Bierbreuwer" aus:  Jost Ammans Ständebuch von 1568 - Gemeinfrei, Link

Zurück ins Prager Sudhaus, wo es Zeit wird, die Maische für die erste Dekoktion von 2 Eimern (=123 l) zu entnehmen. Dazu wird ein Zapfen am Boden des Maischbottichs gezogen und Dünnmaische in einen Schöpfer gelassen, während der Treber durch ein Flechtwerk aus Stroh zurückgehalten wird. Der Dünnmaische wird Malz aus dem Maischbottich hinzugefügt und das Ganze - ualidissimo igne - mit kräftigem Feuer gekocht und anschließend die Kochmaische zurück in den Maischebottich gebracht. Insgesamt werden auf diese Weise drei Dekoktionen gefahren.

Am Ende wird bemerkt, dass die Würze süß und klebrig ist. Interessanterweise wird das aber nicht mit den vorangegangen Dekoktionen und der Maischearbeit in Zusammenhang gebracht, geschweige denn die Dekoktion als notwendige Voraussetzung für die Verzuckerung genannt. Hagecius spricht vielmehr von einer Reifung, die durch die Dekoktion (lediglich) forciert wird, obwohl schon alles, was für das Bier nötig ist, auch durch die Mazeration gelöst worden ist.

Hopfenkochen

Als nächster Schritt wird die Zugabe des Hopfens beschrieben, der nach Hagecius dem Bier den Charakter, die forma gibt. Einen Hinweis auf die Herkunft des Hopfens wird nicht gegeben. Da Hopfen jedoch überall wächst und erst mit der Konzentration auf bestimmte Anbaugebiete sich die Landsorten herausbildeten, können wir davon ausgehen, dass der Hopfen nicht allzuweit gereist war, sondern aus einem Garten im Gebiet oder Umfeld der Stadt stammt. Die Hopfendosis wurde wie schon die Schüttung nicht nach Gewicht abgemessen, sondern nach dem schon erwähnten Hohlmaß Prager Strich, nämlich für einen Sud 2-3 Striche.

Zum Hopfenkochen wird wieder Würze in einen Schöpfer (alveus) gelassen, in die Pfanne gegeben und die angegebene Menge an Hopfen dazugeschüttet. Diesmal wird - lento igne - behutsam gekocht, bis die Würze fast eingekocht ist. Der Hopfen soll dabei aber nicht anbrennen. Dieses Verfahren mag jeden überraschen, der mit der heutigen Praxis des Würzekochens vertraut ist. Allerdings ist das heutige Verfahren, die gesamte Würze mit dem Hopfen lange zu kochen relativ neu und noch im 19. Jh. wurde in Lehrbüchern davor gewarnt, den Hopfen allzu lange in Würze zu kochen.

Am Ende wird die Pfanne mit Würze gefüllt und zum Kochen gebracht. Auch die verbleibende Würze im Maischbottich wird jetzt abgelassen und in andere Bottiche gefüllt. Die gehopfte Würze aus der Pfanne wird ebenfalls in diese Bottiche gegossen und dabei geseiht. Jetzt lässt man sie abkühlen und zwar unter Aufsicht, damit sie besonders im Winter nicht zu tief herunterkühlt.

Gärung

Nun muss die Hefe hinzugefügt werden. Hier würde diejenigen Leser, die ein solches Bier nachbrauen wollen, gern mehr darüber erfahren, mit welcher Hefe und bei welcher Temperatur.

Zur Hefe: Wir können getrost von vorwiegend obergäriger Hefe ausgehen. Vor Einführung der Reinzuchthefe war sicherlich immer eine Mischung von Mikroorganismen, neben saccharomyces cerevisiae auch Arten des lactobacillus und der dekkera bruxellensis, an der Gärung beteiligt. Je nach Bedingungen, dürfte sich eine obergärige Hefe mal mehr, mal weniger durchgesetzt haben.

Einen bestimmten Hefestamm werden wir also nicht festmachen können. Wer trotzdem ein historisches Prager Weißbier brauen möchte, kommt dem Original vielleicht mit einer modernen Wit- oder Weizenhefe ggf. mit weiteren schon genannten Mikroorganismen nahe. Die Gärtemperatur dürfte der Umgebungstemperatur der Prager Gärkeller entsprechen. Im Winter - so Hagecius - wurden im Gärkeller glühende Kohlen ausgelegt, so dass wir zwar von ganzjährigem Brauen, aber bei fast durchgängig sommerlichen (Keller-)Temperaturen ausgehen können.

Als Begriffe für das, was heute Hefe genannt wird, finden sich bei Hagecius sowohl faex (Bodensatz) als auch crassamentum (das Feste). Auch die aus den Behältern ausgeworfene Hefe heißt bei ihm crassamenta. Der Begriff Fermentation wird bei Hagecius sowohl für die gute (alkoholische) Hefe-Gärung als auch für schlechte Fäulnis benutzt.

Doch weil in den heutigen Diskussionen gern rundweg von Spontangärung zu jener Zeit ausgegangen wird, noch einmal ein wörtliches Zitat aus dem 5. Kapitel: "Dieser Würze ... wird nun, wenn sie die richtige Temperatur erreicht hat, fast einen halben Eimer Hefe zugesetzt, die das Bier auszuwerfen pflegt, nachdem es in die Fässer verteilt wurde."

Und da die Begriffe faex wie auch fermentatio immer auch einen negativen Beiklang haben, hebt Hagecius deshalb den "zivilisatorischen” Akt der Hefezugabe hervor: "Hac permixtione faecum ueluti plantatur aut cultiuatur cereuisia, fitque ex agresti domestica.": "Diese Einmischung des Bodensatzes pflanzt und kultiviert das Bier, und aus dem Wilden wird das Kultivierte".

An anderer Stelle und eher beiläufig wird berichtet er, dass mit dem Treber und einem zweiten Aufguss eine unbezifferte Menge Nachbier gebraut wurde. Leider wird nicht erwähnt, ob dieses Bier schon bei der Ausschlagmenge mitgerechet wurde. Dafür spricht, dass der Maischebottich zu keinem Zeitpunkt die gesamte Menge der Würze aufnehmen könnte. Das hieße dann aber auch, dass die Rekonstruktion der Stammwürze diese Biermenge und ihre eigene Stammwürze berücksichtigen müßte. Denkbar ist aber auch, dass schon beim ersten Aufguss auch ein Nachguss aufgebracht wurde, der aber in der Beschreibung keine Erwähnung findet. In der Tat ist die Beschreibung der Vorgänge genau an dieser Stelle unübersichtlich und möglicherweise lückenhaft, weil das Nachbier beim Maischen, Abmaischen und Austrebern nicht erwähnt wird. Stattdessen gräbt der Brauer die Treber um und füllt die Würze in die Fässer.

Lagerung, Reifung und Auslieferung

Nach drei bzw. sechs Tagen (je nach Jahreszeit) ist die Gärung abgeschlossen. Hinweise auf eine Lagerung oder Reifung des Bieres fehlen. Das Bier wurde also entweder jung getrunken oder es kam zur Reifung in den Häusern der Abnehmer. Die auszuliefernden Fässer werden noch bis zum Loch aufgefüllt. Dann wird das Bier an Bürger und Bierkeller (inter ciues et picernas) verteilt. Auch wird erwähnt, wie Sekundärrohstoffe, wie zum Beispiel die Hopfenharze, als Leim an die Hutmacher und die Hefe an die Bäcker abgegeben wird "für allerlei Kuchen, die bei unserem Volk höchst gebräuchlich sind".

Zusammenfassung

Zur Reproduktion historischer Biere sind wir auf ein Gerüst von Angaben angewiesen, mit der wir Zutaten und Prozeß nachvollziehen können. Wie schon angedeutet eignet sich die Quelle nur bedingt, ein solches Bier zu reproduzieren. Zum einen fehlen die uns heute wichtigen Angaben zur Hefe und Gärführung. Zum anderen möchte man auf liebgewordene Praktiken wie das Hopfenkochen mit der gesamten Würze und nicht zuletzt auf eine sorgenfreie Läutertechnik kaum verzichten. Auch in Traditions- und Museumsbrauereien greift man aus Gründen der Haltbarkeit lieber zu modernen Läuterböden. Dennoch legt man den Text nach der Lektüre mit erheblichen Erkenntnisgewinn zur Seite, weil der Brau- und Mälzprozess minutiös beschrieben wurde:

  1. Im vorindustriellen Prag von Hagecius brachte man es auf die beachtliche Sudhausgröße von 60 hl und das bei relativ kleiner Pfanne, weil man auf das Kochen der Gesamtwürze verzichtete. Ob und wie sich das in der DMS-Problematik auswirkte, kann ich nur mutmaßen. Entweder wurde DMS-Geschmack damals einfach in Kauf genommen oder durch den Einsatz von dunklem (Weizen-) Malz zumindest eingeschränkt. Möglich auch, dass damalige Malze einen niedrigeren DMS- oder DMS-P-Eintrag verursachten oder die an der Gärung beteiligten Mikroorganismen DMS stärker abbauten.
  2. Eingemaischt wurde mit kochendem Wasser. Waren die Enzyme in damaligen Malzen robuster oder verschweigt der Autor kleine, aber wesentliche Details etwa das Einmaischen mit Teilen der Schüttung oder das Zugeben von kaltem Wasser?
  3. Geläutert wurde mit Geflechten aus Stroh, das vor den Auslauf des Bottichs gelegt wurde, wie man es heute noch beim Keptinis praktiziert. Zusätzlich wurde die Maische oder Würze (das Wort im Urtext, cremor wird für beides verwendet) durchgeseiht.
  4. Für ein vollständig rekonstruiertes Bier kommt man nicht ohne Annahmen und Lückenschlüsse aus. Das betrifft allgemein die Rohstoffe, besonders aber die Hefe und andere beteiligte Mikroorganismen. Prozesskennzahlen wie etwa die Sudhausausbeute ließen sich u.U. im Versuch ermitteln. Kritisch für die Rekonstruktion ist vor allem auch das Verhältnis zwischen Vorderwürze- und Nachbier. Das ist uns nicht überliefert.
  5. Anhand des Textes besteht wenig Zweifel, dass Hagecius Unterrichtungen aus erster Hand erhielt. Auch für dies Recherche galt für ihn "zurück zu den Quellen". Wenn ihm Fehler in seiner Abhandlung nachzuweisen sind, dann seltsamerweise dort, wo er sprachliche Hintergründe beleuchtet, etwa wenn er schreibt, dass sich der  lateinische Name Cervisia im Deutschen und Sorbischen bis heute gehalten hat, im Spanischen dagegen nicht.

Das Buch hat durch seine polemischen Züge auch einen Unterhaltungswert. Leider ist uns heute nicht immer sofort zu erschließen, auf welche Ereignisse und Personen die Polemik abzielt, so etwa auch der Ort, die Personen und die Umstände einer Bierrevolte, die im Vorwort anklingt. Es ist zu wünschen, dass eine Übersetzung bald einem breiten Publikum zugänglich wird.

 


Hagecius, Thaddaeus: De cerevisia eiusque conficiendi ratione 1585 daten.digitale-sammlungen.de/~db/0001/bsb00015612/images/, Zugriffsdatum 19.2.2020
Thaddaeus Hagecius - Wikipedia: Thaddaeus Hagecius de.wikipedia.org/wiki/Thaddaeus_Hagecius, Zugriffsdatum 19.2.2020
Teich, Mikuláš: The Scientific Revolution Revisited, Open Book Publishers, ISBN 9781783741229 books.google.de/books?id=Rc52CAAAQBAJ&hl=de&source=gbs_navlinks_s, Zugriffsdatum 19.2.2020
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Měřice - Wikipedie: Měřice cs.wikipedia.org/wiki/M%C4%9B%C5%99ice, Zugriffsdatum 20.2.2020
Schwarzburger, Günther: Der wohl unterrichtete Dorfbierbrauer und Mälzer, oder gemeinverständliche Anweisung, nach den Regeln der Kunst und Erfahrung überall ein gutes, sich gleich bleibendes Bier zu brauen, B. F. Voigt, Ilmenau 1824 mediatum.ub.tum.de/1450276, Zugriffsdatum 24.2.2020
Adelung, Johann Christoph: Kofent, Leipzig lexika.digitale-sammlungen.de/adelung/lemma/bsb00009132_6_1_1725, Zugriffsdatum 24.2.2020
Schultze-Berndt, Hans Günther: Über das Nachbrauen alter Biere, In: Jahrbuch der Gesellschaft für Geschichte und Bibliographie des Brauwesen, Ausgabe 1994/95 1995
, Thomas: Zu Besuch bei Ramūnas Čižas, dem Hüter des „keptinis“, In: Mojito Papers www.mojitopapers.de/farmhouse-ales-litauen-potrait-ramunas-cizas/, Zugriffsdatum 24.2.2020
Lietuvos nacionalinis kultūros centras: Keptinis alus www.youtube.com/watch?v=K4CdMlUpZUI, Zugriffsdatum 24.2.2020

 

 

Anmerkung des Autors: Der Artikel wurde am 15.12.2020 aktualisiert. Zum einen war die Berechnung zur Größe der Pfanne fehlerhaft. Ausgehend von einem Malz-Wasser-Verhältnis von 1:3 wurden alle nachfolgenden Größen angepaßt, sodass die korrigierte Berechnung eine Pfannengröße von 934 l ergibt. Zum anderen wurden einige Schreibfehler und Inkonsistenzen im Text ohne inhaltliche Auswirkungen behoben.

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