Was ist eigentlich Grutbier?
Diese Frage wird mir häufiger gestellt, aber sie ist leider gar nicht so einfach zu beantworten. Es gibt da mehrere grundsätzlich verschiedene Ansichten, über die teilweise heftig gestritten wird. Grund dafür ist unter anderem, dass die Quellenlage viel dürftiger und interpretationsbedürftiger ist, als man auf den ersten Blick denken mag.
Ein großes Problem dabei stellt die Sprache des Grutzeitalters dar, in unserer Region ist das Mittelniederdeutsch, also in etwa mittelalterliches Plattdeutsch. Da kann man nicht einfach im Wörterbuch nachschlagen und Zutaten eindeutig identifizieren. Grutbier hat etwas mit Kräutern zu tun, so viel scheint klar zu sein, aber Pflanzen hatten viele Bezeichnungen, manche ganz unterschiedliche Pflanzen hatten dieselben Namen, es gab noch keine wissenschaftliche botanische Klassifikation nach Linnée wie heute. Viele Autoren, die im 19. Und 20 Jahrhundert über die längst vergessene Grutkultur geschrieben haben, haben das übersehen, und einige der daraus resultierenden Missverständnisse geistern noch heute durch die Literatur, weil sie oft zitiert, aber nie überprüft wurden.
Berühmtestes Beispiel: Das mittelniederdeutsche Wort porse, auch geschrieben als porst, pors, porsen, porßen, porsch wurde zumindest im westfälischen Raum sowohl für den Gagelstrauch (myrica gale) als auch für den Sumpfporst (ledum palustre, neuerdings taxonomisch korrekt: Rhododendron tomentosum) benutzt. Versionen dieser Pflanzennamen sind heute noch volkssprachlich im Niederdeutschen und den skandinavischen Sprachen im Gebrauch, ohne dass klar ist, ob Gagel oder Sumpfporst gemeint ist. Beide Pflanzen wachsen nur im Moor und sind stark aromatisch, kommen aber fast nie zusammen in einem Habitat vor und sind auch extrem verschieden. So verschieden, dass moderne toxikologische Untersuchungen zu dem Ergebnis kommen: Gagel ist gesund, kann sogar gegen Krebs helfen. , Sumpfporst hingegen ist giftig, kann zumindest heftige Kopfschmerzen auslösen (Selbstversuch), vielleicht auch Halluzinationen. Sumpfporst wächst im Münsterland aber nicht wild und nichts spricht dafür, dass er im Grutbier verwendet worden wäre, außer die irreführende Bezeichnung porse. Hierin mag das Missverständnis begründet sein, dass Grutbier stark berauschend gewesen sei, gefährlich, bisweilen sogar tödlich und verantwortlich für den „Berserkerrausch“, der schon von antiken römischen Autoren oder in der altnordischen Saga-Literatur beschrieben wurde.
Zurück zu den Fakten, soweit sie sich rekonstruieren lassen: Im Jahr 1480 wurden in Münster vermutlich knapp 50.000 Hektoliter Grutbier produziert und auch konsumiert. Bei einer geschätzten damaligen Einwohnerzahl von 8.000 wäre das ein Pro-Kopf-Verbrauch von eindreivierteln Litern täglich. Grutbier war also offenbar ein normales Alltagsgetränk, ein wichtiger Bestandteil der täglichen Nahrung und gesundheitlich unbedenklich oder zumindest nicht besonders berauschend. Es war eine erschwingliche und dringend benötigte Vitaminquelle. Auf jeden Fall muss man Grutbier klar von medizinischen Heilbieren à la Hildegard von Bingen und auch von kultischen Rauschtrünken unterscheiden, wenn nicht die Berichte über letztere generell eher ins Reich der Fabel gehören.
Dürftige Quellen und widersprüchliche Interpretationen
Es gibt nur sehr wenige authentische Quellen zum mittelalterlichen Grutbier. Die wichtigsten sind die Grutamtsrechnungen, eine Art Geschäftsberichte der mächtigen Grutämter, die alle Einnahmen und Ausgaben der Behörde auflisten: im Wesentlichen allgemeine städtische Verwaltungskosten, Kapitalbeschaffung und eben Kosten aus dem Einkauf für das Brauwesen und die Herstellung von Grut und die ganz beträchtlichen Einnahmen durch Akzisen und den Verkauf von Grut.
Wie fast überall in Westmittel- und Nordeuropa waren auch in Münster Herstellung und Verkauf von Bier in vielfacher Hinsicht stark reglementiert. Das Grutrecht regelte unter Aufsicht eines Grutamts Herstellung und Verkauf der wichtigsten Bierzutat, der Grut genannten Substanz. Ausgeübt wurden diese Rechte über ein Monopol. Wer brauen wollte, musste die Erlaubnis durch den Kauf der Grut erwerben. Letztlich kann man die staatliche Monopolisierung des Grutverkaufs als eine indirekte Biersteuer bezeichnen. Im 12. und 13. Jahrhundert wurden vielerorts die ursprünglich landesherrlichen, also fürstlichen bzw. bischöflichen, Grutrechte aus Geldnot an die Städte verkauft. Die Städte kontrollierten und regulierten die Grutversorgung als lukrative Einnahmequelle über die Monopolisierung der Grutherstellung. Der Verkauf von Grut stellte in vielen Städten den wichtigsten Posten im Haushalt dar. So bestritt z. B. die Stadt Münster zu den Hochzeiten des Grutwesens 2/3 ihrer gesamten Einnahmen aus dem Verkauf von Grut.
Für Münster sind die ältesten erhaltenen Quellen die Grutamtsrechnungen von 1480 und 1533, die von der Historikerin Ilse Eberhardt durch eine sehr sorgfältige Edition und Interpretation zugänglich gemacht wurden. Aus diesen Akten können wir sehen, welche Materialien für das münstersche Gruthaus eingekauft wurden, auch wenn nicht immer klar zum Ausdruck kommt, ob diese wirklich zum Brauen verwendet wurden. So war z. B. der eingekaufte Hafer vermutlich eher als Futter für die Pferde des städtischen Fuhrparks gedacht denn als Brauzutat. In unmittelbarere Nachbarschaft des Gruthauses befand sich auch eine städtische Mühle, die ebenfalls von Pferden angetrieben wurde und die bestimmt auch bei der Produktion der Grut oder bei der Aufbereitung anderer Zutaten des Grutbiers eine wichtige Rolle spielte, ob als Malzmühle oder Kräutermühle oder beides, wissen wir nicht sicher.
Über die Herstellung der Grut und die Tätigkeiten im Gruthaus insgesamt geben die Rechnungsbücher direkt keine Auskunft und für Münster gibt es auch keine anderen Berichte über die Grutherstellung, das Grutbierbrauen oder gar Rezepte. Wir können lediglich versuchen, aus den aufgelisteten Rohstoffen, Gehältern für Beschäftigte und Zahlungen an andere Handwerker abzuleiten, was Grut gewesen sein könnte.
Bei den Ausgaben für Rohstoffe listet die Grutamtsrechnung der Stadt Münster von 1480 folgende Überschriften auf:
• Vor porsen int hus gekofft
• Vor hoppen int hus
• Vor zermentangen
• Vor beckeler
Diese Überschriften bezeichnen buchhalterische Kategorien im System des Gruthauses, die vermutlich in ihrer Benennung stabiler und konservativer sind als die damals aktuelle Versorgungslage am Rohstoffmarkt und die im Laufe der Jahrhunderte auch einfach ihre Bedeutung gewechselt haben können. Das soll heißen: Die Überschrift im Rechnungsbuch übersetzen zu können heißt noch lange nicht, dass wir wissen, was im Jahr 1480 tatsächlich eingekauft und zur Herstellung von Grut verwendet wurde.
Von den vier genannten Kräutern ist nur der hoppen = Hopfen sprachlich unstrittig identifiziert, wenn auch seine Funktion Raum für Spekulationen bietet. Für die anderen Kräuter kursieren in der Forschungsliteratur alternative Interpretationen.
Das mittelniederdeutsche Wort beckeler wird häufig als die Beere des Lorbeerbaums interpretiert. Es gibt aber auch gute Argumente dafür, dass damit genauso die Wacholderbeere gemeint sein kann. Die Schwierigkeiten mit dem Wort porse haben wir oben schon erwähnt, und auch zermentangen lässt mehrere Interpretationen zu, nämlich Berglaserkraut (Laserpitium siler) oder Kümmel (Carvum carvi). Das Berglaserkraut wird auch heute noch als wilder Kümmel oder Bergkümmel bezeichnet, obwohl es botanisch überhaupt nicht mit dem echten Kümmel verwandt ist. Daran lässt sich aber gut erkennen, dass es einen gemeinsamen Nenner für die beiden scheinbar ganz verschiedenen Lesarten des Wortes gibt. In der Grutbierzeit waren offenbar Geschmack, Geruch, Aussehen und Verwendung einer Pflanze wichtiger als die botanisch exakte Bestimmung. Insofern wäre unsere heutige Frage, ob in der Grut nun Berglaserkraut oder Kümmel verwendet wurde, für die damaligen Zeitgenossen vermutlich irrelevant gewesen.
Selbst wenn diese Bezeichnungen sich klar einer Pflanze zuordnen ließen, wäre immer noch offen, welcher Teil der Pflanze in welchem Zustand gemeint sein könnte: Blätter, Früchte, Wurzeln, frisch, getrocknet, gemahlen? Die Argumentationen für oder wider die eine oder andere Lesart laufen in der Regel sprachgeschichtlich bzw. etymologisch spekulativ und stellen sprachliche Formen nebeneinander, die nur vage Ähnlichkeiten aufweisen und zwischen denen hunderte Kilometer und hunderte Jahre liegen. Die relativ neue Archäobotanik liefert da zuverlässigere Erkenntnisse, denen ich mich gerne so lange anschließe, bis die erste Lorbeerbeere oder der erste Samen des Berglaserkrauts bei einer Ausgrabung in Münster gefunden wird. Bislang gibt es für das Mittelalter in Münster ausschließlich harte Nachweise für folgende heute klar zu identifizierende Pflanzen:
• Blätter und Früchte des Gagelstrauchs (Myrica gale)
• Wacholderbeeren (Juniperus communis)
• Kümmelsaat (Carvum carvi)
Der Gagel taucht dabei nie ohne Hopfen an seiner Seite auf, siehe unten.
An Getreide(produkten) wurden 1480 für das Gruthaus angeschafft:
Gerste, Gerstenmalz, Brunkorn und Brunkornmalz, wobei die Interpretation von brunkorn als Braukorn nicht nur sprachhistorisch fragwürdig ist, sondern auch nicht weiterhilft bei der Identifikation. Die Archäologie kann hier auch nichts zur Klärung beitragen, da Treber verständlicherweise nicht weggeworfen, sondern als Tierfutter weiterverwertet wurden.
Der Blick in die Grutamtsakten anderer Städte macht das Gesamtbild im Detail nicht klarer, sondern noch vielfältiger. Es tauchen weitere würzende Kräuter und Getreidesorten auf, die wiederum neue Interpretationsspielräume eröffnen.
Weiterhin können wir den Grutamtsrechnungen entnehmen, dass dort ein Gruter arbeitete, der die Grut herstellte, dazu finden sich auch Lohnzahlungen an Personen der Berufsgruppen Malzmesser, Mälzer, Böttcher, Müller, Schmied, Hufschmied und Holzeinkäufer. Ein externer Handwerker hat ein Mahlwerk repariert, ein Kupferschmied einen Kessel geflickt. Eimer, Bottiche und Siebe wurden angeschafft.
Unterm Strich können wir nur halbwegs sicher feststellen, dass im Gruthaus in Münster gemälzt wurde, geschrotet und irgendetwas unter Verwendung von Kräutern und Malz hergestellt und mit sattem Gewinn verkauft wurde. Es wurde aber nicht nur für den Bedarf gewerblicher Brauer in der Stadt produziert, sondern auch eigenes Bier gebraut, das bei Feierlichkeiten des Rates ausgeschenkt wurde. Aus dem reinen Vorhandensein eines Kupferkessels im Gruthaus können wir also nicht schließen, dass die Grut ein eigenes Gebräu gewesen sei, z. B. ein würziger Malzextrakt, der Kessel und die anderen oben genannten Gerätschaften könnten auch nur für das selbst gebraute Bier zum Eigenbedarf des Grutamts bzw. des Rates dagewesen sein oder an gewerbliche Brauer verliehen worden sein.
Das schwer fassbare Wesen der Grut
Was genau nun Grut für eine Substanz war und welche Funktion sie hatte, lässt sich meiner Meinung nach weder für Münster im Jahr 1480 noch generell für die vielen Städte, die Gruthäuser betrieben, mit Sicherheit sagen. Zu unterschiedlich, in sich oder untereinander widersprüchlich sind die bisherigen Erklärungsversuche, weil die historischen Quellen für uns heute nicht immer verständlich sind. Die mittelniederdeutsche Sprache ist nur eine der Schwierigkeiten. Ein weiteres Verständnisproblem ergibt sich dadurch, dass die ersten Autoren, die im 19. Und 20. Jahrhundert über Grutbier geschrieben haben, keine Brauer waren und auch ein ganz anderes Erkenntnissinteresse hatten als heutige Bierhistoriker: Sie haben sich für die Wirtschaftsgeschichte oder die Entwicklung des Steuerrechts interessiert mit dem Grutwesen als Vorläufer der Verbrauchssteuer. Diese ältere Forschungsliteratur hilft uns nur sehr begrenzt weiter, wenn wir etwas über Rezepte oder Herstellungsverfahren des Grutbiers erfahren wollen.
Seit einer Doktorarbeit an der Universität von Amsterdam aus dem Jahr 1994 kommt etwas Bewegung in die modernere Grutforschung. Hans Ebbing formuliert hier, vermutlich als erster, die These, dass die Grut genannte Brauzutat mehr als eine reine Mischung getrockneter gemahlener Kräuter gewesen sein könnte, wie frühere Autoren es annahmen. Er postuliert eine Art Malzextrakt mit der Funktion, eine Gärung zu starten oder positiv zu beeinflussen. Der würzenden oder konservierenden Wirkung der Kräuter wird in dieser Lesart eher weniger Bedeutung zugemessen.
Diese These erfreut sich aktuell großer Beliebtheit und wurde in der Nachfolge Ebbings von mehreren Autorinnen und Autoren weiter ausgearbeitet. , , Diese Ansätze haben methodologisch dieselben Schwächen wie die älteren Forschungsansätze: Die schwer verständlichen historischen Quellen werden mithilfe von nicht immer sauberen sprachgeschichtlichen Vergleichen oder Querverweisen interpretiert. Dabei bleibt immer ein beträchtlicher spekulativer Anteil. Vor allem finde ich das Ergebnis, dass die Gut ein gärungsfördernder Malzextrakt gewesen sein soll, einfach nicht plausibel. Eine mittelalterliche Brauerei, die in der Lage ist, aus Malz durch Maischen und Läutern eine Würze herzustellen, hat meiner Meinung nach schlicht keinen Bedarf an Malzextrakt. Extrakt ist extrem arbeits- und energieintensiv in der Herstellung, was auch der offensichtlichen Profitorientierung des Grutamts entgegensteht. Zum Starten einer Gärung braucht man auch keinen Malzextrakt, wenn man Würze hat. Bierhefe und ihre Funktion waren damals, entgegen heute verbreiteter Vorurteile, sehr wohl bekannt und gut verstanden, wenn auch nur empirisch-funktional und nicht mikrobiologisch fundiert.
Ein stark konzentrierter Malzextrakt ist durch den hohen osmotischen Druck auch kein gutes Medium für vitale Hefen, ganz zu schweigen von den hohen Temperaturen bei der Herstellung. Diese Zweifel scheinen den Anhängern der Extraktthese auch gekommen zu sein, so dass die scheinbare gärungsfördernde Funktion des Extrakts in den Bereich einer spekulativen Nachgärung verlagert wird oder auf die Wirkung der durch hohe Temperaturen abgetöteten Hefe als Hefenährstoff. Warum das offenbar schnell hergestellte und frisch getrunkene Grutbier eine künstlich beförderte Nachgärung oder zweite Gärung benötigt haben sollte, zumal der Aufbau von Kohlensäure mangels druckdichter Abfüllgefäße kein Motiv gewesen sein dürfte, bleibt rätselhaft.
Ohne an dieser Stelle allzu tief in die Diskussion einsteigen zu wollen, finden sich meiner Ansicht nach sowohl auf der brautechnischen Sachebene als auch bei der sprachlichen Interpretation der Quellen plausiblere alternative Erklärungen für die postulierten Vorgänge im Gruthaus und in der Brauerei oder zumindest genauso starke Gegenargumente zur These „Grut = Malzextrakt zur Förderung der (Nach-)Gärung“.
Beim derzeitigen Forschungsstand müssen wir uns wohl damit abfinden, dass die Frage nach dem Wesen der Grut nicht endgültig zu beantworten ist. Als gesichert kann lediglich gelten: Mit Grut wurden sowohl einige Zutaten des Grutbiers bezeichnet als auch das Grutbier selbst und auch die Einnahmen des Gruthauses aus dem Verkauf des Biers oder der Zutaten. In den wichtigsten Quellen zum Grutwesen, den Grutamtsrechnungen, ist Grut einfach eine buchhalterische Kategorie, die heute vermutlich „Braubedarf“ heißen würde. Grut wurde verpflichtend von Brauern beim Grutamt eingekauft, vermutlich auch mit anderen Zutaten wie Malz, und in der Brauerei eingesetzt. In der Zusammensetzung der Grut spielte der Gagelstrauch (Myrica gale) eine zentrale Rolle. Inhaltsstoffe und Beschaffenheit haben vermutlich im Laufe der Jahrhunderte gewechselt, während die Bezeichnung gleichgeblieben ist. Das macht die spekulative Erforschung der vermeintlichen ursprünglichen Bedeutung des Wortes Grut so irrelevant für die Frage, was Grut auf sachlich-brautechnologischer Ebene gewesen ist.
Grut war Big Business. Wenn die oben genannte rekonstruierte Jahresproduktionsmenge von Grutbier in Münster um 1480 von 50.000 Hektolitern und die angesetzten Sudgrößen von ca. 11 Hektolitern stimmen, dürften im Schnitt täglich 12 Brauereien beim Grutamt zumindest einen Teil ihrer Brauzutaten eingekauft haben. Das bedeutet auch einen enormen logistischen Aufwand mit einem ständigen Kommen und Gehen von Pferdefuhrwerken in der Grutgasse und geschäftiger Be- und Entladetätigkeit.
Grutbier damals und heute – Definitionsversuche
Wenn wir heute Grutbier verstehen oder sogar selbst brauen wollen, werden wir an die große Tradition und Geschichte des Grutbiers zurückverwiesen. Diese Geschichte liegt aber teilweise im Dunkeln, wie wir oben skizziert haben. So verwundert es nicht, dass Grutbier bei Verbrauchern, selbst bei Craftbiernerds, weitgehend unbekannt ist. Auch auf Produzentenseite ist es um die Historizität nicht immer gut bestellt. So gibt es Grutbierbrauer, die sowohl in der Herstellung als auch der Bewerbung ihrer Produkte klar erkennbar nicht an die Tradition des Grutbiers anknüpfen. Als Beispiel möge hier ein Vollbier mit 4,9 % vol. aus Gerstenmalz, Hopfenextrakt, Zitronengras, Anis, Rosmarin und Reinzuchthefe dienen, an dem die Verwendung von Gerstenmalz (wenn auch nicht die ausschließliche) tatsächlich das einzig Authentische ist.
Kräuterbier?
Manche machen es sich leicht, indem sie Grutbier als Bier mit Kräutern definieren – eine meiner Ansicht nach wenig hilfreiche Definition. Denn ich kenne sowohl heute als auch in der Biergeschichte kein einziges Bier, das ohne Kräuter gebraut wurde oder wird. Schließlich ist Hopfen auch nur ein Kraut. Eines von vielen, die in der Geschichte des Bieres eine Rolle spielen, und bei weitem nicht das bedeutendste, auch wenn es aus heutiger Perspektive so scheinen mag. Der Hopfen dominiert als Biergewürz das Brauwesen erst seit 500 bis 200 Jahren, je nachdem, in welcher Gegend man sich umsieht. Bier braut der Mensch aber nachweislich seit mindestens 13.000 Jahren, wie neuste archäologische Entdeckungen belegen.
Bier ohne Hopfen?
Taugt die Abwesenheit von Hopfen als Definitionskriterium für Grutbier?
„Grutbier wird bzw. wurde ohne Hopfen gebraut“, liest man häufig. Es wird eine Opposition zwischen Grutbier und Hopfenbier aufgebaut, die zusätzlich in eine vermeintliche historische Abfolge eingebettet ist, in etwa so: Grutbier hat man gebraut, bevor man Bier mit Hopfen gewürzt hat. In diesem Schwarz-Weiß-Denken taucht dann gerne noch das sogenannte Reinheitsgebot als definitiver historischer Wendepunkt auf, also: Erst gab es hopfenfreies Grutbier, dann kam das Reinheitsgebot und seitdem gibt es nur noch Hopfenbier. Das kann schon alleine deshalb nicht stimmen, weil das ganze Thema Reinheitsgebot hochgradig fiktional ist und weil wir es mit einer Zeitspanne vom 10. bis zum 18. Jahrhundert zu tun haben und mit unterschiedlichen Wirtschaftsräumen im nördlichen Europa von den Niederlanden bis ins Baltikum, in denen das Grutwesen verbreitet und zwar ähnlich organisiert, aber nicht einheitlich war, und in denen die Biergeschichte lokal unterschiedliche Entwicklungen durchlief. So brauten beispielsweise Hansestädte wie Bremen ab dem 13. Jahrhundert Hopfenbier für den Export im großen Stil , während im 18. Jahrhundert, also 500 Jahre später, im Osnabrücker Land immer noch Grutbier gebraut wurde.
Noch verwirrender: Hopfen spielte in der Geschichte des Bieres schon lange vor der Grutbierzeit eine Rolle und auch innerhalb des Grutwesens war Hopfen keinesfalls abwesend. Das zeigen sowohl die historischen Quellen als auch archäologische Befunde in Münster: Die Grutamtsrechnungen enthalten bei den Brauzutaten neben verschiedenen Getreidesorten und Malzsorten vier Kräuter, eines davon Hopfen. Das kann zweierlei bedeuten: Entweder enthielt die Grut bzw. das Grutbier zu dieser Zeit Hopfen oder das Gruthaus hat nicht nur Zutaten fürs Grutbierbrauen verkauft, sondern auch für ein davon getrennt zu betrachtendes Hopfenbier. Ein guter Kandidat dafür wäre das in den Akten erwähnte Koitbier:
„Es war durch einen höheren Hopfenanteil haltbarer und so auch für den Export geeignet.“
Die Zahlenverhältnisse vom Einkauf der Kräuter zu den Einnahmen aus dem Grutverkauf und der Koitakzise (eine Art Biersteuer für Koit) legen aber nahe, dass sowohl das Grutbier Hopfen enthielt, nur weniger als das Koitbier, als auch dass das Koit kein reines Hopfenbier war, sondern vermutlich neben Hopfen auch die anderen Kräuter enthielt.
Harte Fakten aus der Latrine
Wo historische Quellen und deren Interpretation kein wirkliches klares Bild von der Grut und dem Grutbier zeichnen, kann die Archäologie ein paar harte Fakten aus der Braugeschichte ans Tageslicht fördern: In den Jahren 2005 und 2006 wurde in Münster an der Königstraße gegraben. Die Latrinenschächte, die auch zur Müllentsorgung benutzt wurden, deuten auf eine Braustelle hin, weil sie offensichtlich Brauabfälle enthielten:
In den archäobotanischen Befunden der Ausgrabungen in der Königstraße in Münster liegen vom 13. bis zum Ende des 16. Jahrhunderts Früchte des Gagels parallel zu Pollenkörnern und Früchten vom Hopfen (Humulus lupulus) vor.
300 Jahre paralleles Auftreten von Hopfen und Gagel in Brauabfällen und Grutamtsakten, die die sowohl den Einkauf von Gagel als auch von Hopfen dokumentieren, lassen keinen anderen Schluss zu, als dass bei der Grutbierherstellung in Münster der Hopfen über Jahrhunderte Bestandteil des Grutbiers war und sich nicht als Phänomen einer Übergangsphase vom Grutbier zum Hopfenbier wegdiskutieren lässt. Hopfen und Grut waren und sind einfach kein Widerspruch.
Exkurs: Biergewürze in prähistorischer und historischer Zeit
Die Kräuter, die dauerhaft zum Bierbrauen Verwendung fanden, sind vielfältig, aber nicht beliebig. Durch 13.000 Jahre Biergeschichte zeichnen sich ganz klar erkennbare Tendenzen ab. Es gibt einige wenige Hauptkräuter, die immer wieder bei archäologischen Braufunden auftauchen, und ein paar weniger bedeutende Zutaten, die häufig wechseln. Zu den großen Konstanten als wichtigste Biergewürze zählen im Mittelmeerraum der Wermut und nördlich der Alpen der Gagel und der Wacholder. In der Regel treten die Kräuter in Kombinationen auf. Besonders beliebt in unseren Breiten: Gagel + Wacholder und Wacholder + Hopfen.
Erstaunlicherweise taucht der Hopfen schon viel früher auf, als gemeinhin angenommen, und auch lange vor dem Aufkommen des Grutwesens. Archäobotanische Untersuchungen zeigen, dass Hopfen in Mitteleuropa bereits vor 800 n. Chr. zum Brauen verwendet wurde, älteste Funde reichen bis ins Neolithikum zurück, jedoch ohne dass eine Verbindung zum Brauen nachgewiesen werden konnte. Eine neuere Ausgrabung im norditalienischen Pombia brachte in einer protokeltischen Nekropole einen Krug aus der Zeit um 560 vor Chr. zum Vorschein, in dem sich Reste von gehopftem Bier nachweisen ließen.
Fassen wir vorläufig zusammen: Grutbier ist nicht mehr oder weniger ein Kräuterbier als andere Biere auch. Die An- oder Abwesenheit von Hopfen ist auch kein Kriterium.
Wir nennen es Grutkultur
2013 habe ich den Sprung vom Hobbybrauen in die Professionalität gewagt und das Projekt Gruthaus-Brauerei gestartet – mit dem Ziel, das in Vergessenheit geratene Grutbier meiner Heimatstadt Münster wieder auferstehen zu lassen. Als erstes münstersches Grutbier kam 2015 „Grut – Myrica Gale 1480“ auf den Markt, ein mildes Wit mit Weizen- und Hafer-Rohfrucht, Gagel, Wacholder und Kümmel. Die Resonanz war so dürftig dass ich den Vertrieb nach wenigen Jahren wieder einstellen musste, vermutlich weil Grutbier noch unbekannter war als heute und der kryptische Name auch nicht geholfen hat, Käufer anzulocken. Seitdem habe ich immer weiter geforscht und parallel Kleinstsude mit wechselnden Rezepten ausprobiert, die auf Festivals ausgeschenkt wurden. Heute ist das „Stadtbier Münster 1480“ mit leicht veränderter Rezeptur mein Standardgrutbier im Sortiment. Es verkauft sich deutlich besser, was vermutlich am zugänglicheren Namen liegt.
2018 habe ich zusammen mit dem ebenfalls im Münsterland ansässigen Jan Kemker, heute Brauerei Kemker Kultuur , am von einer US-amerikanischen Brauerei ins Leben gerufenen internationalen Tag des Grutbiers eine kleine Feier und Grutbierverkostung in einer lokalen Craftbierbar durchgeführt. Das war die Geburtsstunde unseres jährlichen Festivals „Grutkultur“ und auch des Kollaborationsbiers „Dubbel Porse“, eines starken und sauren Grutbiers mit extra viel Kräutern, das in Jans Brauerei mit gemischten Kulturen vergoren wird und in Eichenholzfässern bis zu 15 Monate reift. Abgesehen von dem hohen Alkoholgehalt kommt dieses Bier hinsichtlich Zutaten, Brauprozess und Fermentation dem münsterschen Grutbier von vor 500 Jahren vermutlich so nahe wie kein anderes. Zusammen mit Jan habe ich auch das Deutsche Institut für Grutkultur gegründet, um unseren Aktivitäten rund ums Grutbier einen offizielle Rahmen zu verleihen und die Vernetzung von am Grutbier interessierten Wissenschaftlern und Brauern voranzutreiben.
Jan und ich folgen bei unserem Tun um und mit Grutbier keiner expliziten Definition davon, was Grutbier heute sein soll und wie man es von anderen Bieren unterscheidet. Aber wir arbeiten daran, das historische Grutwesen besser zu verstehen und dieses Verständnis in die Gegenwart zu übersetzen und mit Gleichgesinnten zu teilen. Das nennen wir Grutkultur, weil der Begriff schön zeigt, dass es nicht nur um das Wesen von Grut und Grutbier selbst geht, sondern auch um das Drumherum: Spurensuche, historischen Kontext, wirtschaftliche und gesellschaftliche Faktoren, Genusskultur, Landwirtschaft und Handwerkskultur.
Das Streben nach historischer Authentizität ist dabei ein wichtiges Ziel, aber auch nur eins von vielen. Grutkultur ist eine Frage der inneren Einstellung, eine Einladung zum radikalen Perspektivwechsel und dazu, alles zu vergessen, was man bisher über Bier zu wissen glaubte. Das führt uns in ein alternatives Bieruniversum, in dem Grutbier nicht die seltsame exotische Spezialität ist, sondern schlicht der Normalfall. Einfach normales Bier in einer Welt, in der Bier noch kein Genussmittel ist, sondern ein alltägliches Lebensmittel. Eine Welt, in der Lebensmittel sehr kostbar sind. Eine Welt ohne industriell hergestelltes Billigbier, aber auch ohne Craftbierspezialitäten als Gegenbewegung. Natürlich eine Welt ohne das sogenannte Reinheitsgebot oder EU-Richtlinien, aber trotzdem sehr streng reglementiert und überwacht und ohne das Recht auf freie Berufswahl oder freie Berufsausübung. Landschaft und Landwirtschaft funktionieren noch ganz anders. Das Münsterland ist von zahlreichen Mooren geprägt, der Gagel wird trotzdem immer seltener und kostbarer, weil der Bedarf der wachsenden Städte ständig steigt. Der Getreideanbau liefert stark schwankende Erträge, in Jahren mit Missernten kann überhaupt kein Bier produziert werden.
Heute Grutbier brauen
Die Versorgung mit Rohstoffen war im Grutbierzeitalter sehr wechselhaft. Unter anderem deshalb gibt es nicht das eine korrekte Grutbierrezept. Wer heute Grutbier brauen will, muss improvisieren und experimentieren und seiner Intuition vertrauen. Mut zum Unperfekten hilft weiter. Schlecht gelöstes Malz aus historischen Getreidesorten, gerne auch rauchig, und/oder Rohfrucht machen die Biere interessanter. Die Jodprobe ist nicht das Maß aller Dinge. Man kann auch ungekochte Würze vergären. Viel Inspiration kann man sich bei skandinavischen Farmhousebrauern holen, die noch heute mit gemischten Kulturen vergären, selbst mälzen oder im Holztrog mit Wacholderzweigen läutern. Temperatursteigerung mit heißen Steinen macht Laune und Karamellgeschmack. Wer braucht da schon Caramalz? Wer das Laserthermometer und die digitale Brausteuerung im Keller lässt, schärft beim Brauen seine Beobachtungsgabe und sammelt wertvolle Erfahrung.
Wertvolle Braukräuter gibt es überall: im eigenen Garten, in der Wildnis oder am Gewürzstand auf dem Markt. Lernt die Pflanzen besser kennen, vor allem die heimischen. Findet heraus, welche Teile zu welcher Jahreszeit die besten Eigenschaften haben. Das kann man fast nirgendwo nachlesen, das kann man nur ausprobieren. Anstatt Rezepten zu folgen, kann man sich vor dem Brauen einen Tee aus der geplanten Grutmischung aufgießen und mit etwas Honig süßen. Intensität und Bittere lassen sich so leichter abschätzen. Probieren geht über Googeln. Auch bei der Gärung führt der Weg zum gelungenen Grutbier über die Experimentierfreude. Probiert altertümliche belgische Hefen aus oder Kveik oder nutzt gemischte Kulturen! Lactobazillen oder Brettanomyces harmonieren erstaunlich gut mit bestimmten Kräutern. Ein bisschen Glück gehört natürlich auch dazu.
Rezept für 100 l Grutbier
Infusionsverfahren mit Hauptguss und mehreren Nachgüssen
- Hauptguss ca. 80 l
- Nachguss ca. 65 l
Schüttung 20 kg für ca. 12 °Plato Stammwürze
- Helles Gerstenmalz (Pilsener, Pale Ale oder Wiener) 70 %
- Dinkel- oder Weizenmalz 15 %
- Weizenflocken 10 %
- Haferflocken 5 %
Maischen und Läutern
- Einmaischen 60 °C
- Rast 62 °C 90 Min.
- Rast 72 °C 20 Min.
- Abmaischen 76 °C
- Läutern
Grut
- 100 g Hopfen Mittelfrüh (4,4, %)
- 300 g getrocknete Gagelblätter
- 100 g Wacholderbeeren (oder frische Wacholderzweige nach Gefühl als Läuterhilfe)
- 10 g Kümmel
Im Mörser anstoßen
Wenn Gagel nicht verfügbar ist, sind alternativ auch folgende Kräuter schön: Lorbeerblätter, Beifuß, Schafgarbe, Mädesüß (frische Blüten), Wermut (vorsichtig dosieren, sehr bitter)
Kochen
Kochzeit 60 Min.
Grut in drei Gaben teilen:
-
- Gabe Kochbeginn
- Gabe 10 Minuten vor Kochende
- Gabe Kochende
Würze kühlen, vergären mit Kveik oder Saisonhefe.
Alternative Raw Ale:
Grut in drei Gaben verteilt bereits der Maische zugeben, direkt nach dem Läutern kühlen und mit Hefe anstellen
Über den Autor
Philipp Overberg,geboren 1972, hat historisch vergleichende Sprachwissenschaften studiert und ist durch seine Begeisterung für handwerklich hergestellte Lebensmittel zum Hobbybrauer geworden. 2013 gründete er nebenberuflich das Brauprojekt Gruthaus-Brauerei, mit dem er unter anderem das historische Grutbier der Stadt Münster wiederbelebte. Er gibt Braukurse und Degustationsseminare am Fachbereich Oecotrophologie der FH Münster und am Archäologischen Freilichtmuseum Oerlinghausen sowie an der Werburg Spenge.
Gruthaus-Brauerei
Deutsches Institut für Grutkultur
grutherr@gruthaus.de
sehr interessanter Artikel, danke!