Norddeutsche Braugeschichte mit Rezepturen
Holger Schmidt-Wiegers, Hobbybrauer und Hobbyhistoriker aus Elstorf bei Hamburg, begann vor vier Jahren in den Hamburger und Lübecker Stadtarchiven mit Recherchen über das norddeutsche Bier der Hansezeit. Das Ergebnis seiner Forschungen erschien 2020 beim Diplomica Verlag Hamburg.
Der erste Teil widmet sich der Geschichte des norddeutschen Brauwesens. Sehr konkret wird anhand gut dokumentierter Quellen die wirtschaftliche und gesellschaftliche Bedeutung des Brauwesens zur Hansezeit beleuchtet und dargestellt, wie stark der Bierexport aus den großen norddeutschen Küstenstädten wie Hamburg, Lübeck, Stralsund, Wismar, aber auch weiter landeinwärts bis Magdeburg, Braunschweig und Einbeck den Handel im Ost- und Nordseeraum prägte.
Im zweiten Teil geht es um fast vergessene Praktiken des Brauens wie beispielsweise die Herstellung von Luftmalz oder wässrigen Hopfenextrakts. Einiges davon lohnt, im Hobbybrauermaßstab ausprobiert zu werden.
Wie schwierig die Recherchen in alten Quellen sind, zeigen kleinere Unstimmigkeiten wie zum Beispiel die zu niedrig angegebenen Temperaturen beim Darren des Malzes (Seite 28). Maßeinheiten waren vor der Einführung einheitlicher Maßsysteme, die erst im späten 19. Jahrhundert begann, äußerst unübersichtlich. Einheiten wie Scheffel, Metze, Kanne, Eimer, Fass oder Tonne waren nicht nur in verschiedenen Landstrichen sehr unterschiedlich, sondern änderten ihre Definition auch über die Zeit. Die Deutung von Maßangaben in zeitgenössischen Quellen wird dadurch sehr erschwert. Auch Missverständnisse in den Quellen selbst sind nicht ausgeschlossen.
Im gesamten zweiten Teil – immerhin 55 der 130 Seiten – geht es um das Nachbrauen historischer Rezepte im Hobbybrauermaßstab. Neben einigen Übersichten werden 19 Rezepte aus den verschiedensten norddeutschen Gegenden in allen Einzelheiten vorgestellt. Oft werden dabei selbst hergestelltes Luftmalz und Hopfenextrakt verwendet, aber immer auch als Option die Nutzung von modernen Malzen und Hopfenpellets angeboten. Alle Rezepte wurden vom Autor selbst im 50er Braumeister oder Einkochtopf gebraut und mit mehreren Teilnehmern verkostet und beurteilt, sind also praktisch erprobt. Die Farbangaben der Rezepte als EBC-Wert sind zwar insbesondere bei den dunklen Sorten durchweg zu hoch, aber als relative Angabe trotzdem zum Vergleich der verschiedenen Rezepte geeignet.
Dem klaren „Ja” des Autors auf die Frage
Kann man die alten Biere überhaupt (so) nachbrauen, dass sie im Geschmack, Aussehen, Konsistenz und Geruch den historischen Vorbildern entsprechen?
kann ich allerdings nicht nicht so uneingeschränkt folgen. Die vorgestellten Rezepte mögen wesentliche Aspekte der ursprünglichen Biere aufnehmen, sind aber allesamt nur persönliche Interpretationen des Autors der oft dürftigen Informationen alter Quellen.
Wie eine Braunschweiger Mumme oder ein Erfurter Schlunz im 16. oder 17. Jahrhundert wirklich geschmeckt haben, wird man nicht mehr in Erfahrung bringen können – die zeitgenössischen Beschreibungen sind meist sehr prosaisch und nicht sehr hilfreich. Selbst wenn Zutaten und Mengen den alten Quellen ausreichend genau entnommen werden können, sind deren Eigenschaften und Qualtitäten sehr ungewiss und die Verarbeitung im Detail nebulös.
Aspekte wie Hefe oder Bakterien werden etwas stiefmütterlich behandelt: fast alle Rezepte werden mit der S‑04 gebraut; die drei untergärigen mit der W34/70. (Milchsäure-)Bakterien oder Brettanomyces kommen nicht zum Einsatz, obwohl wahrscheinlich zumindest die leichteren Biere damals kaum ohne eine einschlägige Infektion gebraut worden sein dürften.
Leider lässt uns der Autor nicht daran teilhaben, wie sein Weg von den alten Quellen zu den nachbraufertigen Rezepten konkret aussah. Ab und zu wird das Rezept zwar mit einem historischen Zitat eingeleitet, das aber meist keine Rückschlüsse auf Zusammensetzung und Brauverfahren zulässt. Was Grundlage für die Zutatenliste und die Brauanweisungen war, bleibt im Dunklen.
Das alles tut der Vielfalt der angebotenen Rezepte aber keinen Abbruch. Wer sich vom strohgelben Ratzeburger Domherr bis zum fast schwarzen Lagerporter, vom leichten Lübecker Rotbier bis zum superstarken Danziger Jopenbier durch das norddeutsche Mittelalter brauen will, wird hier allemal gut bedient. In seiner Konzentration auf Norddeutschland und der breiten Palette der unterschiedlichen historischen Bierstile dürfte das vorliegende Buch wirklich einmalig sein.
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Unser Rezensionsexemplar verlosen wir wieder unter den Einsendern einer Mail mit dem Betreff „Buchverlosung” an Verlosung@braumagazin.de. Einsendeschluss ist der 31. Mai 2022. Viel Erfolg!